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Der Libanon — die orientalische Schweiz

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Die Größe eines Staates hängt nicht zwangsläufig von der räumlichen Ausdehnung seines Landes ab; sie ist vielmehr durch das Volk bedingt, das es bewohnt. Es gab große Staaten, enorm an räumlicher Weite, die untergingen, weil sie sittlich zu schwach wurden, sich auf die Dauer zu behaupten, und es gibt kleine Staaten, die für die Ewigkeit geschaffen zu sein scheinen, weil ihre Völker auf jener sittlichen Höhe stehen, die allein letzten Endes Dauerhaftigkeit verbürgt. Ein solcher Staat zum Beispiel ist die Schweiz und ein solcher könnte wohl der Libanon, sein orientalisches Gegenspiel, werden.

Wohl jung an Jahren, sehr jung sogar, besteht doch der Libanon in seiner gegenwärtigen Formung als souveräner Staat erst seit dem Jahre 1943, bis zu welchem Jahre das Land unter französischer Mandatsverwaltung war, hat sich der kleine libanesische Staat seit zehn Jahren ganz hervorragend entwickelt. v

Der Libanon stellt so richtig die Eingangspforte zum Orient dar, doch könnte man manchmal glauben, wenn man das Land betritt, sei es im hochmodernen Beiruter Lufthafen von Khalde oder im Schiffshafen, und wenn man weiter ins Zentrum der Hauptstadt gelangt, in einer europäischen Hafenstadt zu sein, wären nicht die schlanken Minaretts der Moscheen und die arabisch sprechenden Menschen. Die Stadt Beirut, von Jahr zu Jahr moderner und eleganter werdend, macht so eher einen europäischen denn orientalischen Eindruck, und der prächtige Haüptplatz, der „Place des Canons“, auch „Place des Martyrs“ genannt, palmenbestanden, ist seit der vor einigen Jahren erfolgten Abtragung des „Kleinen Serails’“ wohl einer der schönsten Plätze von allen Städten des Nahen Ostens geworden.

Der Fremde steigt fast ausschließlich am Lufthafen oder am Schiffskai ans Land, denn die Eisenbahn spielt hier mehr die Rolle des Frächters. Während des letzten Krieges haben die Engländer den Schienenstrang von Tripolis im Norden des Landes über Beirut nach Nakoura an der palästinensischen Grenze im Süden gebaut und so interessanterweise durch diese kurze, etwa 150 km lange Strecke die direkte Eisenbahnverbindung von Calais bis nach Südafrika hergestellt. Von Tripolis führt die Bahn nordostwärts über Homs in Syrien nach Aleppo, das nur noch wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt ist, um späterhin über das Taurusgebirge — der dort verkehrende Expreß wird auch deshalb Taurusexpreß genannt — den langen Weg bis nach Istanbul zu nehmen.

Ansonst ist Beirut mit einem Schienenweg mit Damaskus, der syrischen Hauptstadt, verbunden, eine Verbindung, die gleichfalls hauptsächlich für den Frachtverkehr in Frage kommt, da diese Strecke im Automobil nur etwas mehr als zwei Stunden zur Bewältigung braucht, während der Eisenbahnzug, der gleich unserer seligen Kahlenbergbahn auf Zahnrädern über das Gebirge klettert, nahezu den ganzen Tag beansprucht, um ans Ziel zu gelangen. Doch ist die Fahrt sehr schön, vom

Standpunkte des bummelnden, beschaulichen Reisenden aus betrachtet.

Der Libanon, dieses von Naeur aus so schöne Land, ist schon seit langer Zeit eine Art europäisches Protektionskind gewesen. Es scheint, daß die Großstaaten immer ein Interesse daran haben, ein Land zu wissen, das von politischen und kriegerischen Unruhen verschont bleiben möge, nicht etwa damit die Menschheit den Glauben an ein irdisches Paradies nicht verliere, sondern vor allem aus dem Grunde, um eine neutrale Verständigungsbasis in Zeiten der Unruhe zu haben. Ein solches irdisches Paradies ist die Schweiz und ane solche Ruheinsel scheint die orientalische Schweiz, der Libanon, zu werden.

Schon im vorigen Jahrhundert, als in diesen Gegenden, die damals natürlich noch unter der Oberhoheit der Türken standen, Christenverfolgungen stattfanden, haben die Franzosen ihre schützende Hand über das Land gebreitet. Und als nach dem ersten Weltkriege Frankreich den Libanon als Mandatsgebiet zur Verwaltung zugewiesen erhielt, wurde der europäisch-christliche Einfluß noch bedeutend verstärkt. Es ist nahezu eine Selbstverständlichkeit, daß man hier in Beirut französisch spricht. Und es ist dabei sehr interessant zu beobachten, mit welcher unglaublichen Schnelligkeit die Leute hier vom Arabischen ins Französische hinüberschwenken. Oft und oft geschieht es, daß ein Satz arabisch angefangen und französisch vollendet wird. Besonders vor Fremden pflegen die hiesigen Damen, sobald sie ihn auf der Straße gewahr werden, sogleich ins Französische hinüberzuspielen, was oft einen recht drolligen Eindruck macht. Und da es schon recht viel Fremde hier gibt, so hört man auf der Promenade ein stetiges Wechseln der beiden Sprachen.

Dazu kommt noch, daß die französische Jesuitenhochschule Saint Joseph, die sich eines ausgezeichneten Rufes erfreut und kürzlich in Jamhour, in der Nähe Beiruts, auf einer Anhöhe, von der man einen herrlichen Rundblick in das Land genießt, einen großen weit- ausladenden Neubau errichten ließ, wesentlich zur Verbreitung des französischen „esprit“ beiträgt. Die Geschäftsschilder sind vielfach noch in französischer Sprache gehalten, und wenn zuweilen französische Marineüre kurz Zeit hierher auf Besuch kommen, könnten sie fast vermeinen, in ihrem Mutterlande zu sein.

Wenn man den Libanon mit der Schweiz vergleicht, so geschieht dies nicht so sehr wegen der Aehnlichkeit des Landschaftsbildes etwa als eben wegen der eigenartigen, besonderen Stellung, die er unter den arabischen Staaten einzunehmen berufen erscheint. Vor allem ist er unter ihnen das einzige arabische Land, in welchem eine kompakte christliche Bevölkerung wohnt, die allerdings im besten Einvernehmen mit den Mohammedanern lebt, Wobei zu bemerken ist, daß die beiden Glaubensteile proportioneil ungefähr gleich sind. Wiewohl Mitglied der Arabischen Liga, die alle arabischen Staaten untereinander verbin-

det, scheint der Libanon dennoch im Nahen Osten die Rolle spielen zu sollen, die die Schweiz in Europa zum führenden neutralen Staat des Kontinents macht. So ist der Libanon ein liebenswürdiger Verbindungsstrich zwischen den arabischen Staaten einerseits und als Eingangspforte zum Orient zwischen diesem und dem Okzident anderseits.

Die ganze hiesige Atmosphäre, die freie Natürlichkeit der Bevölkerung scheinen dem Libanon, diesem so kleinen Staate mit nicht viel mehr als einer Million Einwohnern, die so eminent wichtige Aufgabe der Vermittlung zwischen den Kontinenten zuzuweisen. Und nicht zuletzt haben wohl auch die Großstaaten ein Interesse daran, wie in der europäischen Schweiz, auch im Orient eine orientalische Schweiz zu haben. Welch schönere Aufgabe kann denn ein Land und ein Volk haben, als Vermittler zwischen den Völkern zu sein? Ist denn nicht auch Oesterreich von denselben Ideen beseelt? Und wenn erst einmal unser Heimatland — hoffentlich recht bald — der vollen Souveränität zurückgegeben sein wird, soll und wird es mit seinem Nachbarlande, der Schweiz, der „ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht“ sein.

Es sind natürlich auch die Schönheiten des Libanon, die dieses Land der Schweiz ver-

gleichbar machen. Und fehlen ihm auch die wundervollen Schweizer Seen, so hat der Libanon dafür eine einzige große See, das Mittelmeer, das ihn mit seinem herrlichen Gebirge, das auf fast 3000 m Höhe ansteigt, so anziehend macht.

Durch den modernen Luftverkehr und infolge seines großartigen Lufthafens in Khalde ist der Libanon von Mitteleuropa aus bequem in rund acht Stunden zu erreichen, so daß man, das nötige Kleingeld vorausgesetzt, einen Doppelfeiertag benützen könnte, direkt über Istanbul oder über München etwa hierherzufliegen, um sich die orientalische Schweiz anzusehen.

Es ist klar, daß noch so manches getan werden muß, um die beiden Schwestern, die europäische und die orientalische Schweiz, noch mehr einander gleichen zu lassen. Schließlich ist die richtige Schweiz das klassische Land des Tourismus, während der Libanon wohl ein altes, klassisches, ‘an Ueberlieferungen reiches Gebiet ist, das jedoch erst dem Fremdenverkehr voll erschlossen werden muß. Die Verschiedenartigkeit des Klimas zwischen den beiden „Schweizerländern" bedingt natürlich auch einen anderen Völkertyp und der etwas rauhe, eckige Schweizer kann nicht in eine Reihe mit dem südländischen Mittelmeer- Libanesen gestellt werden. Der Mensch ist schließlich das Ergebnis seiner Umgebung, die sich vorwiegend aus den Elementen Landschaft mit ihrem Klima, Erziehung und Tradition zusammensetzt. Es muß auch noch so manches hier geschaffen .werden, um der peinlichen, berühmten Schweizer Sauberkeit, die man sowohl in den größeren Städten wie auch im kleinsten Alpendörfchen findet, näher zu kommen. Staat und Stadtgemeinden bemühen sich denn auch, alles zu tun, es der Schweiz nach Möglichkeit nachzumachen, damit die immer mehr in den Vordergrund tretende Bezeichnung des Libanon als „orientalische Schweiz“ vollauf gerechtfertigt werde.

Und der Libanon verdient es wirklich, der Schweiz verglichen zu werden — auch ohne ihre berühmte Käse-, Schokolade- und Uhrenindustrie. Denn wenn er ebenso bekannt wäre durch diese Industriezweige, dann hätte er keine Gelegenheit, diese typischen Schweizer Erzeugnisse aus seinem europäischen Schwesterlande einzuführen.

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