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90.000 Tote klagen viele Mörder an

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Israel verkündet: Der Libanon soll eine starke Regierung erhalten! Aber wie soll das in einem Feudalstaat mit 17 Religionen und 50 Sekten gelingen? Die Zweifel wachsen.

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Israel verkündet: Der Libanon soll eine starke Regierung erhalten! Aber wie soll das in einem Feudalstaat mit 17 Religionen und 50 Sekten gelingen? Die Zweifel wachsen.

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„Der Libanese liebt den Blumenschmuck: Man sieht daher fast jedes Dorf des Landes mit Blumenterrassen umgeben.” So verkündet es der in friedlicheren Zeiten geschriebene Reiseführer. Und: „Gewalt und Terror sind ihm verhaßt.”

Der Reiseführer hat die zweieinhalb Millionen Libanesen, die das ein Achtel von Österreich umfassende Land bewohnen, nicht davor bewahrt, daß heute Terror und Gewalt und nicht die Blumen dominieren.

Israel hat die Grenzen dieses Landes mißachtet und — nach den Verteidigungskriegen von 1948, 1967 und 1973 - zum erstenmal einen Präemptivkrieg vom Zaun gebrochen, der ein Anwachsen der PLO-Gefahr vorwegnehmend beseitigen sollte.

An den rein formalen Fakten ist wenig zu rütteln. Was die Israelis an einer solchen Argumentation irritiert, ist die Weglassung anderer, ebenso unbestreitbarer Fakten, die gleichfalls ins Bild gehören.

Tatsache ist, daß Libanon zumindest seit 1975 kein souveräner Staat mehr war, sondern einerseits von Syrien, anderseits von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) politisch und militärisch beherrscht wurde.

Das hieß ganz konkret, daß die PLO Beamte, Richter und Soldaten der Republik Libanon in weiten Gegenden durch eigene ersetzte und die Zentralstellen hilflos zusehen mußten.

Libanon, 1920 als erweiterte Ausgabe der einstigen ottomanischen Reichsprovinz Libanon mit Teilautonomie ausgestattet, war zu Ende des Ersten Weltkrieges, als das Ottomanische Reich zerfiel, ebenso wie das heutige Syrien von französischen Truppen besetzt worden. 1923 übertrug der Völkerbund Syrien und Groß-Li-banon Frankreich als Treuhandschaftsgebiete. 1941 proklamierte die französische Exilregierung Libanon als unabhängigen Staat, 1946 zogen die französischen Truppen tatsächlich ab.

Trotz kurzer Teilnahme am ersten Nahostkrieg von 1948/49 blühte die Wirtschaft bald. Beirut wurde ein Zentrum des freien Handels und des freien Geldes, Tripolis und Sidon (Saida) wurden Schaltstellen des Öltransports. Die Nachfahren der Phönizier bewiesen ihr Handelstalent.

Aber die politischen, religiösen und sozialen Spannungen im Land waren immer groß. 17 anerkannte Religionsgemeinschaften und über 50 Sekten zersplittern das Volk, in dem immer einige wenige feudale Familien, miteinander rivalisierend, den politischen Ton angegeben haben.

Libanon ist das einzige arabische Land mit annähernd gleichstarker muslimischer und christlicher Bevölkerung. Die stärkste Christengruppe sind die Maroni-ten, die jahrhundertelang Mono-theliten (Leugner der Menschennatur Christi) waren, schon zur Kreuzfahrerzeit aber die Union mit Rom suchten und diese bis heute erhalten haben.

Neben den Maroniten, die etwa 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen, gibt es griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische, syrisch-katholische, armenisch-katholische, armenisch-orthodoxe, koptische (und andere) Christen im Land.

Die Muslime sind in etwa gleichstarke sunnitische und schiitische Gruppen geschieden. Eine Minderheit der Ismaeliten ist dazuzu-rechnen.

Die fast 100.000 Drusen wieder bilden eine Art Geheimreligion, in der sich Elemente von Messianis-mus, Inkarnationsglaube, Gnosti-zismus, Neoplatonismus und Seelenwanderungsvorstellungen vereinigen.

Man versteht, daß in einem Land mit solcher Zerklüftung die Spannungen groß und die Regierungen schwach sind. Die Maroniten hielten es schon im 19. Jahrhundert mit den Franzosen und hatten zwischen den beiden Weltkriegen das Sagen. Immer wucherte der Neid der einen auf die anderen.

Christen und Muslime lagen oft miteinander in Fehde, Drusen und Schiiten wurden von den Sunniten verfolgt. Theoretisch gilt noch immer der „Nationalpakt” von 1943, nach dem der Staatspräsident ein maroniti-scher Christ, der Ministerpräsident ein sunnitischer und der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim sein soll.

Verkomplizierte Lage

Schon Ende der vierziger Jahre komplizierten 170.000 Palästinenser aus den Gebieten, die 1948 zum Staat Israel wurden, die Lage. Als der jordanische König Hussein 1970 die PLO-Herrschaft zerschlug, mußten Hunderttausende Palästinenser dessen Land verlassen. Syrien behielt sie nicht lange, sondern schob sie nach Libanon ab.

Dort leben seither zwischen 400.000 und 600.000 Palästinenser: verachtet von den übrigen Libanesen, untereinander in Vor- und Nach-Sechstagekriegpalästinen-ser gespalten, von einer PLO-Herrschaft regiert und ausgebeutet, die selber in über ein Dutzend rivalisierende Gruppen zerfällt.

Seit 1976 stehen auch noch 30.000 syrische Soldaten im Libanon, den Syrien nie als selbständigen Staat anerkannt, sondern immer als „eigentlich” syrische Provini betrachtet hat. Syrien wird von der Sowjetunion unterstützt: Seine Niederlagen sind auch die ihren ...

Man kann sich vorstellen, wie die israelische Invasion dieses Bild belebt und zusätzlich verwirrt hat. Offen traten die maro-nitischen Christen mit ihren „Forces Libanaises” unter Beschir Dschemajel auf die Seite der israelischen „Befreier”. Andere Gruppen sympathisieren versteckt mit Israel, wieder andere warten ab, wer der Stärkere bleiben wird.

Zwischen 23. Juli und 23. August muß das libanesische Abgeordnetenhaus einen neuen Staatspräsidenten wählen. Als Hauptkandidat gilt derzeit Dschemajel.

Was er fordern wird, ist klar: .Abzug aller Ausländer” (Syrer, PLO-Führung, Israelis) aus Libanon. Aber selbst wenn dieses Wunder Wirklichkeit würde, kann niemand behaupten, daß der Libanon dann regierbar geworden wäre.

Die Zeche solcher Zustände bezahlt, wie immer, das Volk. Seit dem Bürgerkrieg 1975 sind 90.000 Menschen im Libanon umgekommen.

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