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Wozu noch neutral?

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Der EU-Beitritt Österreichs und die geänderten geopolitischen Verhältnisse sollten Anlaß dafür sein, über die immerwährende Neutralität nachzudenken.

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Der EU-Beitritt Österreichs und die geänderten geopolitischen Verhältnisse sollten Anlaß dafür sein, über die immerwährende Neutralität nachzudenken.

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Als ich 1955 maturierte, begann unsere Neutralität und UNO- Mitgliedschaft. Jene nach dem Vorbild der Schweiz, diese im Gegensatz zu ihr. „Jeder Österreicher“ sollte nach Ferdinand Graf, 1955 Staatssekretär im Innenministerium, danach erster Verteidigungsminister der Zweiten Republik, „ein Panzerknacker werden“. Aus meiner Klasse unterzog sich meines Wissens nur einer der Wehrpflicht. „Neutralität ja - Bundesheer nein“.

Im Völkerrecht lernten wir, daß unsere Neutralität nur eine bewaffnete oder keine sei. Wir lernten auch, daß Österreich wegen der dauernden Neutralität und Artikel 4 des Staatsvertrages 1955 nur EFTA- aber nicht EWG-Mitglied sein könne. Wir lernten aber auch die „clausula rebus sic stantibus“, die „normative Kraft des Faktischen“ und den Satz, daß keinem Staat zumutbar sei, seine höchsten Interessen, seine Versprechen und die Vertragstreue zu opfern.

1962 wurde die Neutralität schon von 84 Prozent positiv beurteilt. Sie wurde zu einer Grundlage des Nationalbewußtseins. 40 Prozent hielten den Beitritt zur EWG schon damals für notwendig, aber die Neutralität wurde als Problem angesehen. Kabarettisten sprachen von der „Quadratur des Kreisky“.

Heute geht die Mehrheit der Österreicher (60 Prozent) von der Vereinbarkeit von EU-Mitgliedschaft und Neutralitätsstatus aus und man lernt das auch. Dauernde Neu tralität und Artikel 4 des Staatsvertrages von Belvedere seien kein Hindernis. Von höchster Stelle wird unsere Neutralität zur Diskussion gestellt. Ist sie überholt? Ist sie überholungswürdig?

Neutralität wird ja nur bei Krieg aktuell, sie bedeutet die Pflicht der Nicht-Teilnahme an bewaffneten Konflikten (wobei nicht klar ist, wer zur Feststellung des Falles zuständig ist). Als dauernd neutraler Staat haben wir schon Pflichten im Frieden. Uns ist es verboten, Militärbündnissen beizutreten, militärische Stützpunkte einzuräumen, etwas zu unternehmen oder zu unterlassen, was an der Erfüllung der Neutralitätspflicht im Krieg hindern könnte. Wir sind daher zur umfassenden Landesverteidigung (militärisch, wirtschaftlich, zivil, geistig) verpflichtet und haben für ein dieser Pflicht entsprechendes Bundesheer zu sorgen.

Wurden aber diese Völker- und verfassungsrechtlichen Pflichten immer ernstgenommen? Wir haben, im Artikel 38 des Bundesverfassungsgesetzes noch immer die „Kriegserklärung“, obwohl wir doch schon seit 1955 dauernd neutral und Mitglied der UNO sind. Beides verbietet so etwas, außer bei Notwehr.

ENGAGIEREN STATT DISTANZIEREN

Daher können wir doch die dauernde Neutralität in der Zukunft belassen. Man kann ja nie wissen. Wenn der Vizepräsident der EU, Martin Bangemann, die gegenseitige Beistandspflicht bei Angriff auf ein Mitglied in einer politischen Union an die Wand malt, so werden wir unsere Neutralität „stante concluso“ und „rebus sic stantibus“ neu definieren und praktizieren. Vor Jahren schon hat der Politologe Heinrich Schneider vorgeschlagen, über den Sinn unserer Neutralität nachzudenken. Wir hätten aus der Neutralität einen Fetisch gemacht, sie ideologisch hochstilisiert. Wir hätten seinerzeit Gründe dafür gehabt, diese hätten aber an Gewicht verloren.

Wir könnten über die Neutralität neu nachdenken, wenn wir nur wollten, wir hätten allen Anlaß dazu, wollten wir den Zeichen der Zeit gerecht werden.

Es ist bemerkenswert, daß fast alle führenden Politiker grundsätzlich für die Neutralität waren. Franz Vranitzky bezeichnete sie als „unser höchstes Gut“. Nach Alois Mock gehörte sie „zur Tradition des Landes“. Peter Jankowitsch bezeichnete sie als „Teil unserer Identität“. Viele sprachen Anfang der neunziger Jahre noch von der wichtigsten internationalen Verpflichtung Öster-reichs seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Publizist Peter Michael Lingens hat damals daran erinnert, daß die Neutralität 1955 nichts anderes als ein Preis war, der für die Souveränität Österreichs (neben anderen) gezahlt werden mußte. Er stellte die Neutralität in Frage. Er stellte die Frage, ob die Emotion, die wir für die Neutralität hegen, wirklich so wertvoll sei, daß wir darüber einmal Chancen verspielen. Der neutrale Puffer zwischen den früheren Blöcken sei eine neutrale Hürde zwischen befreundeten Staaten geworden, die Brückenfunktion sei weggefallen, denn zwischen unseren nördlichen Nachbarn und Italien oder zwischen Ungarn und Deutschland bedürfe es keiner Brücke.

Wahrscheinlich ist in einem gesamteuropäischen System kooperativer Sicherheit kein Platz für die Neutralität alter Prägung. Wenn die europäischen Staaten ein gemeinsames europäisches Haus (Josef Klaus) errichten, können wir kein neutraler Dachgarten sein. Wir müssen uns engagieren, nicht distanzieren. Bis dahin kann unsere Neutralität ein stabiler Punkt sein. Wir können eine Aufgabe im Dienst am Frieden und an der Überwindung der Teilungen und Trennungen leisten.

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