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Dokument der Hoffnung

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Am 30. Oktober 1943 genehmigten Anthony Eden, Cordell Hull und Wjatscheslaw Molotow den Text einer Erklärung über Österreich. Die drei Außenminister Großbritanniens, der USA und der .Sowjetunion Unterzeichneten jedoch das Protokoll über die auf ihrer Konferenz in Moskau gefaßten Beschlüsse, als deren „Annex 6” die Österreich-Erklärung aufscheint, erst am 1. November. Am gleichen Tage noch wurde die Erklärung veröffentlicht.

Die Moskauer Österreich-Erklärung ist zu einem Gründungsdokument der Zweiten Republik geworden. Auf sie beriefen sich nicht nur die Alliierten bei ihrem Einmarsch im Frühjahr 1945; ihr Text scheint in der Proklamation der Selbständigkeit Österreichs vom 27. April 1945 vollinhaltlich auf; die Präambel zum österreichischen Staatsvertrag verweist ebenfalls auf sie.

Es lohnt sich daher, den kurzen Text hier wiederzugeben:

„Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, daß Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll.

Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland’ am 15. März 1938 (das irrige Datum geht auf den englischen Ur- entwurf zurück!) als null und nichtig. Sie betrachten sich durch keinerlei Änderungen, die in Österreich seit diesem Zeitpunkt durchgeführt wurden, als irgendwie gebunden. Sie erklären, daß sie wünschen, ein freies und unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen und dadurch ebensosehr den Österreichern selbst wie den Nachbarstaaten, die sich ähnlichen Problemen gegenübergestellt sehen werden, die Bahn zu ebnen, auf der sie die politische und wirtschaftliche Sicherheit finden können, die die einzige Grundlage für einen dauernden Frieden ist.

Österreich wird aber auch daran erinnert, daß es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und daß anläßlich der endgültigen Abrechnung Be- dachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.”

Welche Motive lagen der Erklärung zugrunde? Sie geht auf eine britische Initiative zurück, der erste Entwurf stammt von dem Diplomaten Geoffrey Harrison. Den Engländern ging es vor allem darum, den Widerstand in Österreich gegen das NS-Regime zu stärken; sie argumentierten deshalb sowohl mit Versprechungen (Trennung von Deutschland, Wiederherstellung der Unabhängigkeit) als auch mit Drohungen (bei der endgültigen Regelung würde der Beitrag der Österreicher zur Befreiung ihres Landes in Rechnung gestellt werden). Es kamen englische, besonders von Churchill betriebene Überlegungen hinzu, Österreich in eine mittel- oder südosteuropäische Staatenverbindung einzubauen, die potentiell dem Vordringen russischer Macht Einhalt gewähren sollte.

Auf der Moskauer Konferenz wurde auf sowjetischen Wunsch ein Hinweis auf die „Verbindung” Österreichs mit anderen Staaten verwässert; andererseits wünschten sie, die Verantwortungsklausel etwas schärfer zu fassen. Anstatt des „österreichischen Volkes” wurde „Österreich” mit der Verantwortung „für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler- Deutschlands” belastet, wie es nun ausdrücklich hieß.

Die Moskauer Österreich-Erklärung trug also einen Janus- Kopf. In Österreich wurde naturgemäß seit 1945 jener Aspekt betont, der die Befreiung Österreichs betraf. Die Alliierten ließen sich jedoch nicht daran hindern, fallweise die Mitverantwortung für die Teilnahme am Kriege in den Vordergrund zu rücken.

Es war berechtigt und verständlich, daß die Österreicher zunehmend darauf drängten, die Verantwortlichkeitsklausel, die auch Eingang in den Entwurf der Präambel zum Staatsvertrag gefunden hatte, daraus zu entfernen. Ein Vorstoß bei den Moskauer Verhandlungen im April 1955 war vergeblich, erst am Vorabend der Unterzeichnung des Staatsvertrages war Österreich erfolgreich.

Wir Österreicher identifizieren geradezu die Österreich-Erklärung mit der Moskauer Außenministerkonferenz vom Herbst 1943. Tatsächlich war jedoch die Österreich-Frage nur ein winziges und relativ nebensächliches Teilchen viel umfassenderer Verhandlungen.

Dennoch: Vor 40 Jahren bildete die Moskauer Erklärung für die Österreicher selbst, ob im Lande oder in der Emigration, den Kristallisationspunkt ihrer Zukunftshoffnungen. Jene, die wie Teile der sozialdemokratischen Emigration gezögert hatten, ein unabhängiges Österreich als Zukunftsziel anzustreben, gaben bis auf wenige (wie Friedrich Adler) ihr Zögern auf. Den anderen gab die Erklärung neuen Mut und neue Hoffnung. Auf dem Weg zur österreichischen Identität bedeutet die Erklärung vom 1. November eine große, entscheidende Markierung. Darin ist wohl ihre größte Bedeutung in unserer Geschichte zu sehen.

Der Autor ist Vorstand am Institut für Geschichte an der Universität Wien.

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