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Vom Wechsel der Geschichtsauffassungen

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Das Erscheinen einer zweibändigen Geschichte Österreichs, beginnend mit „Staat und Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg” und mit dem EU-Beitrittsantrag Österreichs endend, wird wohl allseits auf Interesse stoßen. Die Autoren sind meist junge Historiker aus dem Westen unseres Landes. Gedacht ist diese Publikation als Studienbuch für Studenten, Lehrer und Erwachsenenbildner und darüber hinaus für Interessierte, die sich über wichtige Themen der heimischen Geschichte informieren wollen. Und tatsächlich findet man hier manches, was man in anderen Publikationen vergebens sucht.

Österreich im 20. Jahrhundert! Wie unterschiedlich wurde es von der Geschichtswissenschaft gesehen! In der Monarchie gab es keinen Staatspatriotismus, wohl aber einen dynastischen und einen Länderpatriotismus. Im „Staat, den keiner wollte” waren „unter möglichster Ausschaltung der Bolle des Hauses Habsburg” die klein-, groß- und die gesamtdeutsche Geschichtsauffassung anzutreffen, daneben Träume von einer „Beichsidee”. Nach dem „lOOOjähri-gen Beich” berief mar? sich auf die „Moskauer Deklaration”, in der Österreich als „erstes Opfer” von Hitlers Aggresssionspolitik bezeichnet wurde. Schuldig waren „die Deutschen” und die als „belastet” eingestuften (relativ wenigen) Österreicher. Der Ära der Koalition entsprach die „Koalitions-Geschichtsschreibung” mit der gemäßigt-verständnisvollen Beurteilung der Zwischenkriegszeit. Nicht das Jahr 1968 ist für die Bevolution der Zeitgeschichte bei uns so entscheidend gewesen wie die verschiedenen Ge- und Bedenkjahre sowie der Fall Waldheim. Nun setzte eine Welle der Kri-, tik ein. Österreich wurde der „Lebenslüge”, der „Vergeßlichkeit” beschuldigt, es fehlte nicht an Pauschalurteilen und Generalisierungen. Darauf reagierte die andere Seite mit „Nestbeschmutzung” und „Austro-masochismus”. In Wirklichkeit war es das große Verdienst, daß nun Dinge ans Licht kamen, die bewußt verschwiegen, falsch dargestellt worden oder tatsächlich neue Forschungsergebnisse waren.

Es ist das Becht, ja die Pflicht jeder Generation, die Geschichte aus ihrem Blickwinkel zu sehen, hat sich doch auch ein Wandel in der Wertordnung vollzogen. Beachtenswert in diesem Zusammenhang sind die Warnung von Gerhard Jagschitz in seinem Beitrag, die Geschichte Österreichs an einer Kette von Schicksalsjahren aufreihen zu wollen, „und die Mahnung, die persönlichen Wertungen und Haltungen und den Wandel in der Interpretation” zu berücksichtigen.

Einige Bermerkungen: Ein Schwergewicht bildet das Judenproblem, das in mehreren Kapiteln ausführlich behandelt wird, vom Antisemitismus Schönerers bis zum Holocaust und Exil. Sehr richtig die Feststellung, daß der Antisemitismus „das gesamte politische Spektrum der Ersten Bepublik erfaßte” und alle Parteien antisemitische Klischees im politischen Tageskampf verwendeten (322).

Und Thomas Chorherr ergänzt für die Gegenwart, „daß es in Österreich Spuren eines latenten Antisemitismus gibt..., das läßt sich nicht leugnen, es ist so,” („Die Presse” 28. Juni 1997) Dankenswerterweise zitiert Thomas Albrich die ungemein traurige antijüdische Passage aus dem Hirtenbrief von Bischof Gföllner, leider aber wird nicht darauf hingewiesen, daß dieser Hirtenbrief zugleich die schärfste Ablehnung des Nationalsozialismus enthielt. Wichtig sind die Ausführungen über die „andere Kulturgeschichte am Beispiel von Emigration und Exil der österreichischen Intellektuellen 1930-1940”, da das Wissen um dieses wichtige Kapitel bis heute bei vielen unserer Landsleute äußerst gering ist. Unverständlich sind die Beserven, die von manchen Autoren dem österreichischen Widerstand entgegengebracht werden.

Die „Erfahrungen von Anderssein in Verbindung mit Herrschaftsausübung” (Bruckmüller) hat der Rezens-ent beim Heer im Frühjahr 1943 selbst gemacht, wo das Österreichbewußtsein vorhanden und soweit als möglich gepflegt wurde. Erika Wein-zierl setzt den Widerstandsbeginn gegen den Nationalsozialismus erfreulicherweise mit 1934 an und folgt der Widerstandsdefinition von Karl Stadler, also einem „weiteren Widerstandsbegriff”. Über die Entwicklung des Österreich-Bewußtseins und die Nationswerdung findet man nicht viel, dabei wird übersehen, daß dies erst geschaffen werden mußte. Immer wieder wird betont, daß Österreich nicht nur Opfer, sondern Täter war und Österreichs Schuldbekenntnisse zuwenig weitgehend waren und sind.

Kurz muß auf die Auseinandersetzung um die „Moskauer Deklaration” eingegangen werden. Wenn man den Ausführungen des kanadischen Historikers Bobert Keyserling folgt, dann hätte man, was die Moskauer Deklaration anlangt, mit Österreich ein übles Spiel betrieben. Er gelangt nämlich zu dem Ergebnis, „die alliierten Motive seien hauptsächlich propagandistischer Natur gewesen, nämlich die Anstachelung des österreichischen Widerstandes gegen Hitlers Begime” (11/132). Später sei kein Interesse an der Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs festzustellen, und erst gegen Kriegsende habe man auf dieses Dokument zurückgegriffen. Für Günther Bischof wurde die Moskauer Deklaration „dazu instrumentalisiert, Österreichs ,Opferstatus' festzuschreiben”. Und Evan Burr Bukey schreibt (1/483), daß die Moskauer Deklaration zur Zeit ihrer Veröffentlichung „weder von den Alliierten noch von den Österreichern wirklich ernstgenommen zu werden schien”. Gerald Stourzh, wohl einer der besten Kenner dieser Materie, stellt in seiner „Erschütterung und Konsolidierung des Österreich-Bewußtseins” (In: „Was heißt Österreich?”, hg. v. Plaschka, Stourzh und Niederkorn, S.308) dazu fest, daß „die von den Alliierten de facto gebotene Chance von einer österreichischen Begierung gar nicht zurückgewiesen werden konnte. Dazu kam, daß die ,Opferthese' auch persönlichen Erfahrungen zahlreicher Politiker der ersten Stunde entsprach”. Von größter Bedeutung sind die beiden Südtirol-Kapitel!

Der „Großen Koalition” wird bescheinigt, daß sie „ganz erheblich zur positiv verlaufenden österreichischen Nachkriegsgeschichte beigetragen und damit eine Art Identifikation erleichtert” (11/286) hat. Aufschlußreich sind besonders für junge Menschen - die Ausführungen Madertha-ners über den Neuen Menschen (1/171 lf).

Natürlich werden die Beiträge mehr oder weniger Zustimmung finden, wie bei einem Sammelband üblich, in dem die Autoren verschiedene Ansichten vertreten. Das kann aber auch als Vorteil bezeichnet werden!

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