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Wie uns die andern sehen

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Auf Wunsch des ORF wurden etwa 40 Geschichts- und Geographielehrbücher, die derzeit in unseren westlichen und östlichen Nachbarstaaten vor allem im Geschichtsunterricht der 14- bis 18jährigen verwendet werden, unter die Lupe genommen.

In den’ Geschichtslehrbüchem der Bundesrepublik Deutschland werden für die Zeit vor 1914 erwähnt: Österreichs Erhebung gegen Napoleon, Erzherzog Karl, Andreas Hofer, der „deutsche“ Krieg 1866 als Krieg zwischen den beiden „deutschen Großmächten“, der Zwei- und Dreibund 1882. Berta von Suttners „Waffen nieder!“, die Annexion Bosniens und der Herzegowina, in der das Deutsche Reich mit „Nibelungentreue“ hinter Österreich stand, und daß man vor 1914 in Österreich häufig hören konnte: „Wir wursteln halt weiter.“

Ausführlicher werden allgemein nur 1914 und 1938 behandelt, wobei in der Kriegsschuldfrage 1914 der Anteil Österreichs als treibende Kraft meist stärker betont wird, als dies den Forschungen des deutschen Historikers Fritz Fischer entspricht, sowie der „Jubel“ von 1938. Im Zusammenhang mit ihm werden die Ereignisse von 9. bis 13. März 1938 relativ genau und ausführlich geschildert. In einem Buch lautet ein Lernsatz: „Die meisten Menschen in Deutschland und Österreich fanden den .Anschluß“ 1938 gut. Was übersahen sie dabei?“ Für die Zeit nach 1945 wird nur mehr der „Friedensschluß“ mit Österreich 1955 erwähnt, der Österreich zu immerwährender Neutralität verpflichtete und jede wirtschaftliche oder politische Vereinigung mit Deutschland verbot, sowie die EFTA-Mitgliedschaft Österreichs.

In den italienischen Geschichtsbüchern fällt die durchgehende Betonung der Rolle Italiens und Mussolinis im Juli 1934 auf, die als „lichter Moment“ in der Politik des „Duce“ gesehen wird. Bemerkenswert ist außerdem, daß gerade in einem italienischen Lehrbuch vor der gewaltätigen NS-Politik gegen die österreichischen Juden die Rede ist, die sonst in keinem einzigen der anderen untersuchten Bücher erwähnt wird. Mehrmals taucht Wien als die „immensa capi- tale“, der „enorme capo“, der zu große Kopf eines kleinen Körpers, auf, verbunden mit der Feststellung, daß die Republik Österreich unter den Bedingungen des Vertrages von St. Germain nicht leben konnte. Die Sympathien für den „Anschluß“ werden damit erklärt, die Selbständigkeitsbemühungen Seipels und vor allem von Dollfuß werden dennoch positiv bewertet. In einigen Büchern kommt wohl der Juli, aber nicht der Februar 1934 vor. Neutralität und Südtirolproblematik werden verständnisvoll dargestellt. In einem Geschichtslehrbuch wird die christlich-katholische Tradition auch der Republik hervorgehoben, in den Geographielehrbüchem ist die Herausstellung des deutschen und katholischen Charakters Österreichs nicht zu übersehen.

In den Schweizer Geschichtslehrbüchem ist die Analyse des Untergangs der Habsburgermonarchie kurz und zutreffend. Die Anschlußbewegung Vorarlbergs an die Schweiz wird relativ genau dargestellt. jene an Deutschland jedoch nicht. In der Darstellung der Geschichte der Ersten Republik werden Sympathien für Dollfuß und Aversionen gegen das „sozialistische Wien “ deutlich. Sehr ausführlich und objektiv ist die Geschichte des „Anschlusses“. Der Begeiste- rangüber „Großdeutschland“ wird die richtige Prognose Churchills gegenübergestellt.

In den jugoslawischen Geschichtslehrbüchern werden starke Resentiments bei der Schü- derang der Ereignisse von 1914

deutlich. Das Faktum, daß bei der Kärntner Volksabstimmung 1920 „die Arbeiter größtenteüs“ für Österreich stimmten, wird interessanterweise damit erklärt, daß Österreich „wichtige Trümpfe“ in seiner Hand hatte: „Österreich ist eine parlamentarische Republik ohne Militarismus, Jugoslawien aber ist eine Monarchie unter der Diktatur der Bourgeoisie und des Militärs“. Zum Abschnitt über die Zeit nach 1945 lautet der Randtext: „Österreich erfüllt die Bestimmungen des Staatsvertrages zu langsam“. Im Text: „Obwohl sich Jugoslawien die ganze Zeit nach dem Kriege um gute Beziehungen zu Österreich bemühte, erfüllte dieses die Verpflichtungen gegenüber den Minderheiten nicht. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten waren daher öfter gespannt, am stärksten 1972, als die reaktionären deutschen Kräfte in Kärtnten die zweisprachigen Ortstafeln vernichteten“.

In den Geschichtslehrbüchem der CSSR sind chronologische Fehler und die ideologische Färbung markant. Dennoch ist die Darstellung des „Anschlusses“, „die erste große territoriale Verletzung des Versaüler Systems“ ausführlicher und für die Österreicher günstiger als in manchen Lehrbüchern westlicher Nachbarn. Einprägsam ist die Schilderung der Ereignisse 1918 in Böhmen: „In der neu entstandenen Tschechoslowakischen Republik hielt sich noch viel Ungerechtigkeit aus der Zeit öster- reich-Ungams.“ Die Charakteristika der Zweiten Republik sind: „Österreich ist ein kapitalistisches Land.“ „Die Österreicher sprechen deutsch.“ „Österreich ist ein neutraler Staat.“

Daß Österreich ein „kapitalistisches Land“ ist, wird auch in den ungarischen Lehrbüchern betont. Detailliert wird auf die Ereignisse 1933/1934 eingegangen. Obwohl die Politik Schuschniggs, besonders nach dem Juli-Abkommen 1936 mit dem Deutschen Reich, kritisiert wird, ist in einem Lehrbuch seine Abschiedsrede vom 11. März 1938 wörtlich wiedergegeben. Im

„Lehrhandbuch für den Ge schichtsunterricht in der IV. Klasse Mittelschule“ ist auch ein Brief des damaligen österreichischen sozialdemokratischen Unterstaatssekretärs Otto Bauer an Bėla Kun publiziert. Er wird dahingehend kommentiert, daß Bauer zwar die Vereinigung der rassischen und der ungarischen Revolution mit der deutschen verhindert habe, aber ebenso, daß sich um die Ungarische Räterepublik „der Ring der Gegenrevolution“ schloß. Bauer habe erkannt, daß jede gegenrevolutionäre Wendung in Ungarn, aus welcher Richtung immer, „eine schwere und unmittelbare Gefahr für die österreichische Demokratie“ bedeute.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß in den meisten untersuchten Lehrbüchern eine wohlwollend-sachliche, wenn auch meist kurze Darstellung überwiegt. Ebenso richtig wie reserviert ist sie in Schweizer Büchern. In deutschen ist gelegentlich ein leichter Unterton von Überlegenheit spürbar. Am negativsten sind wegen der Slowenenfrage die jugoslawischen Lehrbücher. Durchgehend ist die Betonung der Bedeutung Wiens, der „Kaiserstadt“, deren „große Zeit“ mit dem Untergang der Monarchie „dahin“ sei. Nirgends wird auf die Innenpolitik der Zweiten Republik eingegangen, auf die österreichische Nation, auf die Minderheiten - mit Ausnahme der jugoslawischen Lehrbücher - und auf den österreichischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Frage ist daher nicht von der Hand zu weisen, ob das Bild der Geschichte Österreichs in den Lehrbüchern unserer Nachbarn oder seiner Lehrstellen nicht auch auf österreichische Selbstdarstellungen zurückgeführt werden muß.

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