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Entrümpelung der Geschichte

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GESCHICHTE DER DEUTSCHEN. Von Paul Sethe. Verlag Heinrich Schefflet. Frankfurt am Main. Das moderne Sachbuch, Band 2. 308 Seiten, 48 Tafeln, Leinen. Preis 12.80 DM.

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GESCHICHTE DER DEUTSCHEN. Von Paul Sethe. Verlag Heinrich Schefflet. Frankfurt am Main. Das moderne Sachbuch, Band 2. 308 Seiten, 48 Tafeln, Leinen. Preis 12.80 DM.

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Bezeichnungen wie „Zar aller Russen“ der „Kaiser der Franzosen“ verursachten Schwierigkeiten, weil sie über die Staatsgrenzen hinausgriffen. So ist es auch mit einer „Geschichte der Deutschen“, die, wie die vorliegende, mehrere Staaten umfaßt, von denen aber zum Beispiel weder das Heilige Römische Reich noch Österreich nur aus Deutschen bestanden. Was in Literatur und Kunst möglich ist, kann in der Völkergeschichte nur schwer angewendet werden. Das zeigt auch der Umstand, daß die Schweiz der Neuzeit vom Autor nicht einbezogen worden ist: Trotz dieses Einwandes ist Sethes Arbeit sehr lesenswert, sie schreibt — wie Goethe es „von Zeit zu Zeit“ verlangt hat — eine Geschichte um, denn viel ist im letzten Jahrhundert geschehe, was ganz neue Betrachtungsmöglichkeiten mit sich gebracht hat.

Gut die Hälfte des Textes gehört dem Heiligen Römischen Reich, dem die drei entscheidenden Abschnitte: Bismarck, Wilhelm II. und Hitler, folgen. Bismarck wird nicht in allem bejaht, aber doch als überragend anerkannt, die Schuld am Zusammenbruch seiner Reichsschöpfung seinen versagenden Erben angelastet, unter diesen vorwiegend dem dritten deutschen Kaiser (Wilhelm II.): „Das schwerste Unglück für die Monarchie war der Kaiser selbst.“ Für die kurze Geschichte des Großdeutschen Reiches wird die Formel gefunden, daß an allem Hitler allein verantwortlich bleibt, was man aber ebensowenig vorbehaltlos wird unterschreiben können wie den Satz: „Das deutsche Volk war schweigend und mit schlechtem nationalem Gewissen in diesen Krieg (1939) gegangen.“ Hier wird die Geschichte wohl noch umgeschrieben werden müssen.

Die militärischen Gedanken über den weiten Weltkrieg sind nicht in allem befriedigend, die Auffassung, was Hitler in wenigen Wochen erreicht hat, hätten die kaiserlichen Generäle in vier Jahren nicht zusammengebracht, bedarf einer Einschränkung, weil mit Ausnahme von Belgien diesen Generälen ein Serienüberfall auf neutrale oder isolierte und schwache Staaten nicht als Aufgabe gestellt war. Im Wesen begegnet dem Leser überall viel sachliche Selbstkritik, die unter anderem auf Seite 247 für 1914 bis 1918 zusammenfassend lautet: „Die Gegner waren viel stärker... Die Deutschen glaubten, die Überzahl des Gegners an Menschen und Material überwinden zu können... Di eigentliche Sünde der Deutschen war die Selbstüberschätzung.“ Manche bisher irreführende Kulissen der Geschichtsschreibung sind verschwunden, und die Forderung der UNESCO nach Entrümpelung des Geschichtsgutes findet vielfach Erfüllung. Sethes Darstellung bedeutet einen erfreulichen Fortschritt im Schaffen eines berichtigten Geschichtsbildes, und der Österreicher muß hoffen, daß es nicht bei diesem ersten Schritt bleibe. Stellenweise wird noch der Rotstift anzusetzen sein: Die Habsburger, die von 1000 Jahren 400 Jahre hindurch Kaiser waren, nehmen noch nicht den gebührenden Raum ein; ihr Verdienst um die Jahre 1529 und 168? erscheint hervorgehoben, doch Karl V. von Lothringen kommandierte am Kahlenberg nicht als „Prinz des Reiches“, sondern als österreichischer Feldmarschall; Maria Theresia war keinesfalls „der letzte Rebell gegen Kaiser und Reich vor Friedrich“, da der spätere Kaiser Karl VII. 1741 den Krieg gegen Österreich als Kurfürst von Bayern begann; bei Leipzig, 1813, führte den Oberbefehl nicht Gnei-senau, sondern Fürst Karl zu Schwarzenberg; was über Königgrätz und den Krimkrieg gesagt ist, bedarf ebenfalls noch einiger Retuschen, sie werden bei einer Neuauflage bestimmt nicht ausbleiben, denn der gute Wille des Verfassers ist überall erkennbar, der Hinweis auf das neue Österreich verrät es nochmals: „Raab bewies mit seiner diplomatischen Kunst, daß die große Überlieferung der Hofburg noch nicht gestorben war. Aber er hatte auch die Bevölkerung hinter sich. Sie war reif genug, zu erkennen, daß man ein so großes Geschenk wie das der Einheit und Freiheit nicht ohne Gegenleistung erhält. Österreich bekannte sich zur Neutralität. Das kleine österreichische Volk traute sich zu, seine Freiheit ohne Militärbündnis zu behaupten.“

Der Autor macht den Versuch, sein historischen Schilderungen mit einer Idee für „Die deutsche Aufgabe“ abzuschließen, indem er einen Vergleich mit 1850 anstellt: „Die Bundesrepublik muß erkennen, daß sie ihre oder ihrer Verbündeten Kraft überschätzt hat. Sie muß sich daran gewöhnen, daß auf lange Zeit die Ziele nicht zu erreichen sind, die sie sich gesteckt hat. Sie muß jetzt beweisen, daß sie dazu fähig ist, was Preußen nach 01-mütz vermochte: nach dem Scheitern eines großen Planes eine neue politische Konzeption zu gewinnen.“ Die neue Konzeption soll sich aber von jenen ausgesprochen kriegerischen nach 1850 unterscheiden, sie soll nämlich darin bestehen, das wiedervereinigte Deutschland in die Vereinigten Staaten von Europa einzugliedern und mit diesen „Weltfriedenspolitik“ zu betreiben. /

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