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Das Staatsarchiv

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Als Maria Theresia, mit der das altehrwürdige Kaiserhaus der Habsburger erlosch, im Oktober des, Jahres 1740 den Thron ihrer Väter bestieg, da ergab sich die merkwürdige Tatsache, daß in dem unendlichen Wust der Staats- und Familienurkunden gerade die wichtigsten Stücke, die ihr Erbrecht vor allem stützen sollten, nicht aufzufinden waren. — Kein Wunder. Denn diese Familien- und Staatsdokumente lagen in Wien und in Wiener Neustadt, in Graz und in Innsbruck, in Freiburg im Breisgau, in Mailand und in Brüssel, in Prag und in Ofen verstreut. Sie lagen zwar wohlverwahrt in Laden und Schatztruhen, aber sie waren nirgends geordnet, nirgends Verzeichnet. Es erwies sich als unmöglich; jeweils das gewünschte Stück zu finden. Mehrere Jahre lang behalf man sich zwar. Aber als der tatkräftige und entschlossene Fürst Kaunitz an die maßgebliche Stelle des Staates vorrückte, da wurde endlich energisch durchgegriffen. Auf seine Vorstellungen hin verfügte die Kaiserin 1749 die Zentralisierung und Neuordnung ihres Hausarchivs und betraute mit dieser Aufgabe den Hof- und Gubernialrat Theodor Anton Taulow von Rosenthal, der sich alsbald mit Feuereifer ans Werk machte und ein ganzes langes Menschenleben hindurch nicht müde wurde, die Urkunden- und Aktenschätze der Habsburger in die Wiener Hofburg zusammenzutragen.

Das war &er Anfang eines wissen seh artlichen Instuutes, das heute Weltruf genießt, das eines der größten Archive Europas darstellt und das an Bedeutung überhaupt nur mit dem Archiv des Vatikans, mit den großen Staatsarchiven von Paris, London und Simancas in Spanien verglichen werden kann. Denn was hier zusammengebradit wurde seit den Tagen der großen Kaiserin, das ist ja nicht nur das Archiv der Habsburger als österreichische Landesherrn und als deutsche Kaiser, das ist das Archiv der habsburgischen Weltmacht in all ihren internationalen Bindungen und Verflechtungen. Kein ernster Forscher, möge er was immer für historisches Thema behandeln, wird an dieser unerschöpflichen Quelle, an diesen unerhörten Schätzen vorbeigehen können. Es erweckt ein ganz eigenes Gefühl, ein Ehrfurcht einflößendes, zum Erschauern bringendes, wenn man die Hallen des von Kaiser Franz Joseph errichteten neuen Archivgebäudes am Minoritenplatz betritt und hier all das längst Vergangene, das man sonst nur vom Hörensagen kannte, noch lebendig und greifbar, als wäre es erst gestern gewesen, vor Augen sieht. Du interessierst dich zum Beispiel für die englische Geschichte? — Sieh hier die eigenhändigen Briefe der schönen, unglücklichen Maria Stuart und der Königin Elisabeth, das prunkvolle Siegel Cromwells, die Schreiben von Marlborough und Wellington, die Briefe der Königin Viktoria. Du willst etwas sehen aus Frankreichs Vergangenheit? — Etwa die Briefe Ludwigs XIV., die hier liegen, oder die Schreiben von Richelieu und Mazarin? Die Briefe der unglücklichen Marie Antoinette aus dem Kerker? Den Werbebrief Napoleons um die Hand der Erzherzogin Marie Louise oder die Abdankungsurkunde des großen Korsen? Es liegt alles parat. Oder zieht es dich nach Rom? — Dutzende uralter Papsturkunden, unendliche Reihen diplomatischer Berichte warten, daß du sie durchblätterst. Bis du Orientalist? — Sieh die zahllosen Sultansurkunden mit ihren prachtvollen, goldstrotzenden „Tugren“, den Sultanszeichen! Willst du etwas zwischen Maximilian I. und dem Zaren Wassilij von 1514 mit seinen prunkvollen Goldbullen, hier sind die eigenhändigen Briefe von Peter dem Großen, von der Zarin Katharina und von Suworow. Oder willst du etwa über den Großen Teich und dir vorher noch rasch die Schreiben von Benjamin Franklin und von Washington besehen? — sie liegen zur Einsicht bereit!

Aber auch wenn dein historisches Interesse nicht ins Weite strebt, wenn du dich nur mit der Geschichte unseres eigenen Landes beschäftigen willst, wirst du den Gang nach dem Minoritenplatz nicht vermeiden kön--nen. Denn hier findest du alle die Bausteine, aus denen unser österreidiischer Staat errichtet wurde, von den Tagen der Babenbergischen Herzoge bis in die neueste Zeit. Gehen wir sie schnell einmal durch und betrachten wir als Ausgangspunkt unseres Weges durch die Jahrhunderte jene Urkunde Rudolfs von Habsburg, mit der er im Jahre 1282 seine Söhne mit den erledigten Herzogtümern Österreich und Steiermark belehnt hat. Sie ist, wie sichs für einen so armen König ziemt, klein und bescheiden, winzig und flach die Goldbullc, die daran hängt. Aber groß und prunkvoll ist das berühmte oder berüchtigte „Privilegium majus“, das „größere Privileg“, mit dem sein Urenkel, Herzog Rudolf IV., genannt der Stifter, im Jahre 1358 versucht hat, den „Erzherzogen“ von Österreich unerhörte Vorrechte vor den übrigen Reichsfürsten zuzuwenden. Wer war eigentlich dieser Herzog Rudolf IV.? Ein Größenwahnsinniger, ein Narr? — Vielleicht. Ein Fälscher, ein Verbrecher? — Vielleicht! Ein Genie? — Sicherlich! Denn feststeht das eine, daß kaum die gewaltigsten Herrscher vor und nach ihm so nachhaltig und entsdieidend in die Gesdiichte unseres Landes eingegriffen haben, wie dieser schlanke Jüngling, der neunzehnjährig, 1358, zur Regierung gekommen, schon 1365, knapp sechsundzwanzig Jahre alt, gestorben ist. Denn auf seine Fälschungen, oder vielleicht besser gesagt, auf seine genialen Phantasien, geht letzten Endes die Entwicklung Österreichs zum eigenen Staatswesen zurück. Wohl hat er selbst den Beginn dieser Entwiddung nicht mehr erlebt. Kaiser Karl IV., sein Schwiegervater, hat ihm die Bestätigung der vorgelegten Urkunden versagt. Aber neunzig Jahre später hat Friedrich III., von dem das Staatsarchiv ein wundervolles, unbekanntes Porträt besitzt, diese falsdien Diplome kraft kaiser-lidier Machtvollkommenheit bestätigt und ihnen damit Gesetzeskraft verliehen, so das Hinauswachsen des österreichisdien Staatsgebildes aus dem Rahmen des Reiches ermöglichend.

Welche eigentümliche Persönlichkeit, dieser Kaiser Friedrich III.! Passiv bis zum äußersten, aber dabei auch von einer unvorstellbaren Zähigkeit und von einem unerschütterlichen Glauben an die künftige Größe seines Hauses und seines Reidncs. Seine Devise, die er überall anbringen ließ: A E I O U, das heißt: „Alles Erdreich Ist Oesterreich U ntertan“ — er hat sie fast wahr gemad. Denn unter ihm begann jene habsburgische Heiratspolitik, die tatsächlich fast die ganze Welt eroberte: sein einziger Sohn, der „letzte Ritter“ Maxmilian, heiratete Hie burgundische Erbtochter, die schöne, zärtliche Maria, sein Enkel, Philipp der Schöne, nidit nur schön an Körper, sondern auch an Geist, gewann die Hand der Erbprinzessin Johanna von Spanien, die aus Gram über den frühen Tod des Geliebten in Wahnsinn verfiel, seine Urenkel Ferdinand und'Maria führten in jener berühmten Doppelhochzeit zu St. Stephan die Kinder des Königs Wla-dislaw von Böhmen und Ungarn heim, so auch die Kronen dieser Reiche an das Haus Habsburg bringend. „Bella gerant alii, tu, felix Austria, nube!“ — „Kriege mögen die anderen führen, Du, glückliches Österreich, heirate!“ Alle die Zeugnisse dieser weltumspannenden Ehepolitik können wir hier sehen: die zierliche Hand der Maria von Burgund, bekräftigt mit ihrem Damensiegel, so frisch, als wäre es gestern geprägt worden, die Eheverträge und Heiratsurkunden mit goldenen und silbernen Schnüren und Bullen, die Briefe des unglücklichen Königs Ludwig von Ungarn bis zu seinem letzten Hilferuf an den Schwager Ferdinand, wenige Stunden vor der Schicksalsschlacht von Mo-hacs, 1526. Dann die „Pragmatische Sanktion“ von 1721, jenes Hau.esetz Kaiser Karls VI., das seiner Tochter Maria Theresia das Erbrecht sichern sollte — einst so wichtig im Geschichtsunterricht.

Und nun — das Herz schlägt irgendwo wärmer, wenn wir die kraftvollen Schriftzüge Maria Theresias bemerken. Unendlich die Zahl ihrer Resolutionen und Denkschriften, ihrer Billette und Briefe, von den ersten naiv-zärtlichen Liebesbriefchen an ihren Bräutigam Franz Stephan von Lothringen bis zu den letzten flüchtigen Zeilen an ihre Kinder, wenige Stunden vor ihrem Tod. Josef IL, der Volkskaiser, wird dann lebendig, dessen erste Regierungshandlungen das Toleranzpatent und die Aufhebung der Leibeigenschaft gewesen sind, und Franz II., der „gute Kaiser Franz“, der 1804 seine österreichischen Erblande zum Kaisertum erhoben v und wenig später die längst sinnlos gewordene deutsche Kaiserkrone niedergelegt hat. Brauchen wir noch darauf hinzuweisen, daß jener stattliche, prunkvolle Sammetband die „Schlußakte“ des Wiener Kongresses von 1815 enthält? — Jener einzigartigen, internationalen Versammlung, die die durch die Napoleonischen Kriege aus den Fugen geratene Welt wieder einrichten sollte und — nehmt alles nur in allem — auch eingerichtet hat.

Und endlidi die lange Reihe der Staatsverträge, Beridite und Korrespondenzen der Franzisko-Josephinischen Zeit, bis die alte Monarchie unter den Erschütterungen des ersten Weltkrieges zusammenbricht und die junge Republik Österreich mit starkem Lebenswillen das längst vcrsdiollen geglaubte rot-weiß-rote Banner der Babenberger wieder aufpflanzt — wir stehen tief beeindruckt, ja erschüttert vor dem Ende. Vor dem Ende? — Nein, vor dem Anfang! Denn diese starke Überzeugung nehmen wir mit uns, wenn wir nun das „Staatsarchiv“, dieses ehrwürdjge „Repositorium der österreichischen, nein, der europäischen Geschichte“, wieder verlassen: vor der Geschichte gibt es kein Ende, sondern nur eine Wandlung; denn auch im Leben der Völker und Staaten trägt jeder Tod die Auferstehung in sich, die Auferstehung zu einem neuen, zu einem anderen Leben.

Nochmals fällt unser Blick auf die Devise Kriser Friedrichs des Dritten: „AEIOU“, aber nun will uns dünken, daß doch vielleicht die lateinische Auslegung derselben die richtige ist: „Austria E rit In O rbe U ltima“ — das ist: „Österreich wird sein und leben bis ans Ende der Tage.“ Trotz allem.

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