Waren die Habsburger wirklich degeneriert?

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Eine These, die auf den ersten Blick plausibel wirkt, aber der Überprüfung nicht standhält.

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Eine These, die auf den ersten Blick plausibel wirkt, aber der Überprüfung nicht standhält.

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Dem Habsburger-Kannibalismus folgte die Habsburger-Nostalgie, jetzt ist die Habsburger-Demontage dran. Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man sich zwei Neuerscheinungen anschaut. Über "Die schrulligen Habsburger - Marotten und Allüren eines Kaiserhauses" hatten bereits im Herbst Konrad Kramar und Petra Stuiber geschrieben. Nun marschieren, vorgeführt von Christian Dickinger, "Habsburgs schwarze Schafe" auf: "Über Wüstlinge, Schwachköpfe, Rebellen und andere Prinzen".

Der hundertste Todestag der Kaiserin Elisabeth wurde so gründlich verwurstet, daß man marktmäßig von verbrannter Erde sprechen kann. Neue Bücher über Sisi wagt derzeit niemand. Und alle, die jetzt endlich die Tinte halten können, handeln weise mit diesem Verzicht. Der Ehemann der Kaiserin, Franz Joseph, wurde gleich gründlich mit durch den Buchmarkt gedreht. Derzeit also auch verbrannte Erde. Aber die Touristen stürmen weiter Schönbrunn und die Hofburg, die nur wenige Österreicher von innen kennen, wer interessiert sich schon für die Sehenswürdigkeiten vor seiner Haustür. Dafür sind die Österreicher nach wie vor eifrige Habsburgensia-Leser. Doch worüber können die Habsburgensia-Autoren noch schreiben?

Makabres Jubiläum Immerhin, ein imperiales Jubiläum bietet sich heuer doch noch an. Freilich ein eher makabres. Am 28. Juni jährt sich zum hundertsten Male die Ablegung des Renunziationseides durch den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand. Ob man uns aus diesem Anlaß mit einem Buch beglücken wird? Mit dieser peinlichen Feierlichkeit entstand ein weiterer Riß im Gebälk der franzisko-josephinischen Monarchie. Auch wenn man fast ein Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des alten Österreich das dumpfe Grollen des nahenden Untergangs, das damals viele zu vernehmen glaubten, nicht mehr ganz nachvollziehen kann. Ein künftiger Kaiser mußte feierlich auf die Erbrechte seiner Nachkommen verzichten. Das hatte es im Hause Habsburg noch nicht gegeben.

Franz Josephs ungeliebter Neffe war nach dem Selbstmord von Kronprinz Rudolf und dem Tod seines eigenen Vaters Karl Ludwig der legitime Thronerbe. Daran führte auch für den Kaiser kein Weg vorbei. Das Verhältnis der beiden war immer schon schlecht gewesen. Es war noch schlechter seit Franz Ferdinands Erkrankung an Lungentuberkulose. Der Kaiser und der ganze Hof hatten ihn fühlen lassen, daß sie seinen Tod erwarteten und darüber nicht böse waren. Der feste Wille des Kranken, es ihnen zu zeigen, dürfte nicht unwesentlich zu seiner ebenso unerwarteten wie erstaunlichen Genesung beigetragen haben. Seit sich Franz Ferdinand aber die völlig unmögliche Ehe mit einer simplen böhmischen Gräfin Chotek in den Kopf gesetzt hatte, herrschte zwischen dem Kaiser und seinem designierten Nachfolger Eiszeit.

Eiszeit ist eine Untertreibung. Eiszeit herrschte ja in der Hofburg immer. Es war den Familienmitgliedern strengstens untersagt, an der kaiserlichen Tafel das Wort an Seine Majestät zu richten. Nicht einmal sein Sohn, Kronprinz Rudolf, hatte den Vater von sich aus ansprechen dürfen, und Mama Sisi hatte sich die längste Zeit so gut wie nicht um ihn gekümmert. Keiner seiner Minister durfte Franz Joseph auf ein Thema anreden, das nicht sein engstes Arbeitsgebiet betraf. Er reagierte eisig, geradezu allergisch, auf Ratschläge, um die er nicht gebeten hatte, und von sich aus bat er nur äußerst selten jemanden um Rat.

Verschärfte Eiszeit Zwischen Franz Joseph und Franz Ferdinand herrschte also nicht Eiszeit, die war ja normal, sondern verschärfte Eiszeit. Die Ablegung des Renunziationseides fand in der Geheimen Ratsstube statt. Anders, als der Name vermuten ließe, handelt es sich um einen großen, hellen Raum im weißroten habsburgischen Neobarock. Er war voll. Auf Allerhöchsten Befehl waren alle großjährigen Erzherzöge und alle Träger von Hofämtern uniformiert angetreten. Vor dem Kaiser, der auf einem Thronsessel saß, mußte Franz Ferdinand die Hand auf die Bibel legen und für seine zukünftige Frau sowie alle noch ungeborenen Nachkommen auf sämtliche kaiserlichen, königlichen und sonstigen Titel und Rechte verzichten. Ein ausführlicher Bericht ging nachher sofort an die Presse. In diesem Falle war Öffentlichkeit ausdrücklich gewünscht, eine gewaltige Ausnahme im geheimniskrämerischen Kaiserhaus. Erst nach der Ablegung des Eides durfte der Thronfolger die Frau seines Herzens heiraten. Daß dabei kein einziger Erzherzog und keiner der Brüder Franz Ferdinands anwesend war, gibt einen Begriff von der Kälte in dieser so gern idealisierten Familie.

Außer dem Hause Habsburg kannte kaum ein europäisches Kaiserhaus den Begriff der morganatischen Ehe. Die strengen Hausgesetze der Habsburger, die ausschließlich Ehen mit Mitgliedern regierender Häuser zuließen, galten aber für sämtliche Erzherzöge. In der dadurch zwangsläufig programmierten Inzucht sieht Christian Dickinger den Hauptgrund für den Niedergang des Hauses Habsburg, das tatsächlich eine ganze Reihe auffälliger, exzentrischer, mehr oder weniger schrulliger Persönlichkeiten hervorbrachte. Wofür sich ja nicht nur in seinem Buch, sondern in der ganzen einschlägigen Literatur eine Fülle von Belegen findet.

Doch bei näherem Zusehen zeigt sich, daß der Habsburger-Staat an allem möglichen, doch ganz gewiß nicht an jenem Faktor, auf den es Dickinger so stark abgesehen hat, nämlich an seinen ingezüchteten Genen, gescheitert ist. Tatsächlich brachte diese Familie nämlich neben ein paar Verwandten, die man vielleicht als Nieten der genetischen Lotterie bezeichnen kann, eine Reihe widersprüchiger, problematischer, zugleich aber auch hochbegabter Persönlichkeiten hervor. Einige von ihnen, darunter ganz bestimmt Kronprinz Rudolf, waren genug intelligent, gebildet, weitblickend und einfallsreich, um gemeinsam mit dem Langzeitherrscher Kaiser Franz Joseph Wege zu Rettung des auseinanderstrebenden, krisengepeitschten, an vielen Stellen morschen Staatsgebildes zu finden.

Vorausgesetzt natürlich, daß es solche Wege gab. Daran mag einer zweifeln, doch die meisten Zweifler vermitteln den Eindruck, Österreichs Untergang mehr oder weniger unbewußt vor allem deshalb für unausweichlich und von der Geschichte besiegelt zu halten, weil sie sonst um eine äußerst kritische Bewertung der Politik Franz Josephs nicht herumkämen. Die grundsätzliche Möglichkeit eines anderen Ablaufes läßt sich nicht abstreiten, wenn man nicht die jeweils eingetretene Entwicklung für die von vornherein einzig mögliche hält, also ausgesprochen deterministisch denkt.

Freilich: Im Alleingang hätte selbst ein politisches Genie die Probleme und Krisen, mit denen Franz Joseph konfrontiert war, kaum bewältigen können. Aber Franz Joseph war leider weder ein politisches noch sonst ein Genie. Er hätte in vielen Berufen bestehen können, er war weder klüger noch dümmer als die vielen, vielen Menschen, die uns täglich auf der Straße begegnen. Keine Rede von den üblen Folgen jahrhundertelanger Inzucht. Franz Joseph hätte Österreichs Krisen managen können - als Chef eines ideenreichen Teams, mit einem Pool von intelligenten, weitblickenden Beratern, mit Gesprächspartnern, die ihm die Möglichkeit geboten hätten, in jeder Situation all ihre Facetten zu besprechen, alle Alternativen zu erörtern, alle drohenden Konsequenzen durchzuspielen. Der Pool war da, die Weitblickenden sahen die Katastrophe herankommen, aber der Kaiser verharrte in einer tatsächlich krankhaft anmutenden Isolierung und Abkapselung.

Der Faktor Erziehung Diese Abkapselung aber war nicht das Resultat seiner angeborenen Anlagen, sondern einer in Anbetracht der Aufgaben, die seiner harrten, völlig falschen, ja, wie sich zeigen sollte, geradezu katastrophalen Erziehung. Dickinger liegt völlig richtig, wenn er im unkritischen Vertrauen auf die göttliche Sendung, im überholten Gottesgnadentum, einen wichtigen Faktor des Scheiterns ortet.

Der hundertste Jahrestag des Renunziationseides könnte Anlaß sein, eine der möglichen Alternativen zu erörtern. Im Königreich Ungarn spielte der Begriff der morganatischen Ehe keine Rolle. Mit allen Vorbehalten, unter Erörterung aller dagegen sprechenden Faktoren einschließlich der notorischen Voreingenommenheit des Thronfolgers gegenüber den Ungarn, wäre die Installation Franz Ferdinands auf dem ungarischen Thron und der Übergang der Erbfolge in Österreich auf den späteren Kaiser Karl, anno 1900 mindestens eine Erörterung wert gewesen. Habsburger hatten ja einst geteilt schon über die halbe Welt geherrscht. Wahrscheinlich hätte man sich nicht dazu entschlossen, doch wären bei solcher Gelegenheit zwangsläufig viele andere Probleme auf den Tisch gekommen, mit denen sich der Kaiser hätte beschäftigen müssen. Doch in der Wiener Hofburg wurde nicht debattiert, nicht einmal geredet. Nicht einmal ansprechen durfte man Seine Majestät, wenn man nicht gefragt wurde, und jegliches Fragen war Seiner Majestät fremd.

Keine Rede auch von der Einführung eines Thronfolgers in seine Aufgaben, in die Techniken des Regierens, soweit noch regiert wurde. Zuletzt war Franz Josephs Politik nur noch Rodeo im Zeitlupentempo. Franz Ferdinand machte sich im Rahmen seiner ausgeprägten Vorurteile selber wissend, Karl stand vor seinen Aufgaben wie die Kuh vor dem neuen Tor. Man darf freilich bezweifeln, daß Franz Joseph, hätte er überhaupt gewollt, in der Lage gewesen wäre, ihm viel Brauchbares mitzugeben.

Ein Buch, das zu kritischen eigenen Gedanken anregt, ist immer ein lesenswertes Buch. In diesem Sinne hat Christian Dickinger sogar ein sehr lesenswertes Buch geschrieben. Konrad Kramar und Petra Stuiber tragen eine Fülle von Material bei, das hilft, diese kritischen eigenen Gedanken zu präzisieren. Außerdem sind beide Bücher eine ausgesprochen amüsante Lektüre.

Doch ums Fazit scheint kein Weg herumzuführen: Inzucht ist gewiß nicht empfehlenswert und zeitigt oft negative Folgen. Doch das Haus Habsburg eignet sich kaum dafür, dieses alte Wissen zu bestätigen. Dafür bietet gerade das Haus Habsburg eine Fülle von Fakten, um die gewaltige Rolle zu erhärten, welche die Erziehung bei der Formierung der Persönlichkeit spielt. Die Habsburger partizipierten überdurchschnittlich an der Inzucht der europäischen Herrscherhäuser, sie genossen die beste Erziehung und Ausbildung, welche ihre Zeit zu bieten hatte, aber sie wurden auch zum Dünkel erzogen. Gerade Christian Dickinger macht durch den schöpferischen Widerspruch, den er herausfordert, wieder einmal bewußt, daß das Haus Habsburg noch personelle Ressourcen besaß. Sie kamen nur leider in der Spätzeit nicht mehr zum Zug. Franz Joseph, ein Ausbund an Fleiß und Pflichterfüllung, fühlte sich durch seine Auserwähltheit selbst über seine eigene Familie erhaben, hörte auf niemanden und ließ den Vielvölkerstaat sehenden Auges in den Abgrund schlittern.

Habsburgs schwarze Schafe. Über Wüstlinge, Schwachköpfe, Rebellen und andere Prinzen. Von Christian Dickinger. Verlag Ueberreuter, Wien 2000. 224 Seiten, geb., öS 291,-/e 21,15 Die schrulligen Habsburger. Marotten und Allüren eines Kaiserhauses. Von Konrad Kramar und Petra Stuiber. Verlag Ueberreuter, Wien 1999. 208 Seiten, geb., öS 291,-/e 21,15

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