6823144-1973_48_10.jpg
Digital In Arbeit

Ein Kniefall in Trier

19451960198020002020

Die Geschichte ist der Schlüssel zum Verständnis der Zeit. Nur die Kenntnis der Geschichte vermittelt jene Dimension, in der Gegenwart und Zukunft ihren Platz haben. Nur das Wissen um -die Geschichte Europas läßt die Schlüsse für die Politik Europas unserer Tage zu. Europäische Geschichte: das ist das Ergebnis der Herausbildung von Nationalstaaten, die wiederum am Ende einer feudaldynastischen Entwicklung stehen. Leopold von Ranke meint, daß Frankreich ein europäischer Kleinstaat geblieben wäre, wenn vor genau 500 Jahren, im November 1473, das Herzogtum Burgund zu jener Größe aufgestiegen wäre, die sich sein kühner Herzog Karl erträumte, als er mit dem römisch-deutschen Kaiser, dem Habsburger Friedrich III,, in Trier zusammentraf.

19451960198020002020

Die Geschichte ist der Schlüssel zum Verständnis der Zeit. Nur die Kenntnis der Geschichte vermittelt jene Dimension, in der Gegenwart und Zukunft ihren Platz haben. Nur das Wissen um -die Geschichte Europas läßt die Schlüsse für die Politik Europas unserer Tage zu. Europäische Geschichte: das ist das Ergebnis der Herausbildung von Nationalstaaten, die wiederum am Ende einer feudaldynastischen Entwicklung stehen. Leopold von Ranke meint, daß Frankreich ein europäischer Kleinstaat geblieben wäre, wenn vor genau 500 Jahren, im November 1473, das Herzogtum Burgund zu jener Größe aufgestiegen wäre, die sich sein kühner Herzog Karl erträumte, als er mit dem römisch-deutschen Kaiser, dem Habsburger Friedrich III,, in Trier zusammentraf.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Dimension des mehrere Monate dauernden Treffens von Trier hat aber auch noch eine andere Perspektive; sie leitete einerseits den Abstieg Burgunds — des wohl reichsten und mächtigsten Hauses des Spätmittelalters — ein, schuf aber den Aufstieg des Hauses Habsburg zur Weltmacht.

Burgund war unter den großen Herzögen Philipp dem Kühnen, Johann ohne Furcht, Philipp dem Guten und Karl dem Kühnen zwischen einem um seine Existenz im Hundertjährigen Krieg kämpfenden Königtum Frankreich und dem Reich zu Macht und Reichtum gelangt. Die Idee des alten Lotharingien, des Reiches zwischen West und Ost, entstand zu Ausgang des Mittelalters wieder im Herzogtum Burgund. Von den Alpen bis zur Nordsee, von der Loire bis zum Rhein war es auch der Ansatz zu einem ganz außerordent-

liehen übernationalen Reich — und in dieser wesentlichen Idee dem späteren habsburgischen Imperium nicht unähnlich. Im Herzogtum sprach man französisch, deutsch, flämisch; die Notabein kamen aus allen Teilen; die Künstler des ausgehenden Mittelalters zog es an seine Höfe. Claus Sluter, dessen Zeugnisse heute im französischen Dijon zu bestaunen sind — wie sein epochaler Moses —, Rogier van der Weyden mit seinen großen Darstellungen aus der letzten Gedankenwelt des Mittelalters kamen aus den nördlichen (heute niederländischen), Provinzen des Reiches; Jean Michel und George de la Sonnette waren französische Burgunder — und sie überlieferten uns in der Grablegung Christi in Ton-nerre eine der ganz großen, für die Kunstgeschichte bahnbrechenden Darstellungen des nackten menschlichen Körpers. In Freiburg/Breisgau kann man die Spuren deutsch-stämmiger Meister ebenso finden wie im Elsaß: geschaffen aus burgundischer Lust und Freude an der Kunst — in jenen Dekaden, da sich das Mittelalter zur Neuzeit wandelte, da aus der Gotik die Renaissance erwuchs.

Das übernationale Burgund als befruchtender Boden übernationaler Kunst — wie mehrere Jahrhunderte später das habsburgische Übernationalitätenreich die bedeutendsten barocken Werke durch Deutsche und Italiener, Franzosen und Magyaren schaffen ließ, Komponisten und Poeten magisch anzog.

Burgund im Jahre 1473 also, vor 500 Jahren: ein integrales europä-

isches Großreich, ein Experimentierfeld künftiger europäischer Verschmelzung, ein Zentrum übernationaler geistig-künstlerischer Ambition.

War es verwunderlich, daß seine großen Herzöge nach mehr strebten als nach der Vasallenschaft unter einem Roi Trer-Chretien und einem zwischen kleinfürstlichen Interessen und dem Kampf um die Reichsmacht hin und hergerissenen Kaiser?

1473 kam Karl der Kühne, des Habsburger Maximilian späterer Schwiegervater, nach Trier. Seinen golddurchwirkten Mantel schätzten Zeitgenossen auf über 100.0Ü0 Gulden; mit ihm kamen 3000 schwere Panzerreiter, die militärische Elite in der Rüstung seiner Zeit, 50P0 leichte Reiter und 6000 Knechte. (Vier Jahre später trat der gleiche Karl vor Nancy mit nur 2000 einsatzfähigen Kämpfern zur Schlacht an —

und verlor Leben und Reich. In Trier aber waren die Glöcklein an den Schabracken der burgundischen Reiter noch auf den Schall seiner Heertrommeln abgestimmt.)

Auf Karl trifft Friedrich. Er kommt aus einem Land, in dem bereits die Türken stehen. Im Frühjahr 1473 waren sie erstmals in Kärnten und der Steiermark aufgetaucht; zwei Jahre vorher mußte Friedrich mit einem gefährlichen Adelsaufstand unter der Führung Andreas Baumkirchers fertigwerden, den er unter Gelöbnisbruch in Graz verhaften und hinrichten ließ; und vier Jahre später sollten ihn die Ungarn unter König Matthias Corvinus aus Wien und Wiener Neustadt vertreiben.

So weiß Friedrich III. und die ihn begleitenden Großen des Reiches um die Schwäche des Hauses Habsburg. Man weiß, daß der Kaiser seine Söldner nicht zahlen kann, man weiß um die Schwierigkeiten innerhalb seiner Familie, vor allem mit seinem Bruder, und um seine Zaghaftigkeit bei der Bekämpfung der dissidenten Kurfürsten und Bischöfe im Reich.

Dem Österreicher Friedrich widerstrebt in Trier somit das „welsche Geprotze“ der Burgunder und er deutet den Kniefall Karls als gut gespielte Demut — die die wahren Absichten verbergen sollte, deretwegen Karl nach Trier gekommen war: die Nachfolge des Hauses Habsburg im Reich, die Königs- und Kaiserwürde. Der Preis für den Verzicht Friedrichs: eine Heirat der Kinder des Kaisers und des Herzogs, viel Geld und Schutz vor den Türken.

Aber der Habsburger bleibt auch in Trier seinem AEIOU treu: er wehrt sich gegen den zähen Druck des Burgunders, der ihn zwar aus allen Geld- und Kriegsgeschäften zu befreien verspricht, aber den zähen

Kampf der Habsburger um den ersten Platz im Reich zunichte gemacht hätte.

Die Verhandlungen ziehen sich hin. Zwischen Turnieren und Gastmählern dauert das Treffen schon acht Wochen. Karl der Kühne, ungestüm in Charakter und Wesen, will sich schließlich mit der Königswürde zufriedengeben. Burgund soll Königtum werden, vom Reich 'unabhängiger, und sich vergrößern dürfen: um Lothringen, Geldern, Savoyen. Hermann Wiesflecker meint in seiner großen Maximilianbiographie1), daß der Herzog dem Habsburger sogleich 80.000 Gulden schenkte.

-Aber je mehr sich die konkreten Verhandlungen hinziehen, desto unheimlicher wird dem bedächtigen Österreicher der ungeduldige Gewaltmensch Karl.

Friedrich III. verläßt in den grauen Morgenstunden des 25. November 1473 Trier — ohne seine Schulden oder die seines Trosses zu begleichen. Er verabschiedet sich weder vom Gastgeber, dem Erzbischof von Mainz, noch von Karl dem Kühnen. Einem burgundenischen Boten, der ihn zurückhalten will, soll er geantwortet haben: „Nichts da, nichts da! Alles sind leere Phrasen; an einem Tag verspricht der Herzog etwas, am anderen Tag ist es wieder nichts.“

Vieles spricht dafür, daß Karl der Kühne jener Mann gewesen wäre, der sich für sein Haus und sein Reich die Führung in Europa gesichert hätte — wäre das Treffen von Trier in seinem Sinne ausgegangen und hätte Friedrich nachgegeben. Dem romantischen Rahmen der Liebesheirat zwischen Maximilian und Maria war also ein großes politisches Ge-

schäft vorausgegangen — und eine der wesentlichen Weichenstellungen in Europa.

Für den Burgunder Karl endet der Mißerfolg von Trier tragisch. Unbeherrscht, eigensinnig und unfä-

hig im Maßhalten — so schildert ihn Joseph Calmette2), greift er nach immer höheren Zielen. Nach Trier wendet er sich nach Westen, gegen seinen Erbfeind, Frankreichs schlauen König Ludwig XI. Karl verbündet sich mit Eduard V. von England: Frankreich soll in die Zange genommen werden, der Hundertjährige Krieg wieder neu entflammen.

Aber Burgunder und Engländer beginnen zu streiten. Ohne gemeinsame Strategie greifen sie Frankreich in der Normandie an. Und es gelingt dem französischen König, Eduard V. von Karl zu trennen: der Burgunder muß zurück und findet sich im Elsaß einer Aufstandsbewegung gegenüber. Zwischen dem Herzog von Lothringen — jenem Stück, das zwischen Burgunds südlichen und nördlichen Besitzungen wie ein Riegel liegt — und den Schweizern im Süden kommt es zu einem Bündnis; Karl greift mit Ungeduld die Eidgenossen an und muß am 22. Juni 1476 bei Murten eine katastrophale Niederlage einstecken.

Jetzt ist Karl fast völlig isoliert.

Ein halbes Jahr später fällt schließlich die Entscheidung vor der lothringischen Hauptstadt Nancy: Karl der Kühne stirbt im Kampf. Blindwütig hat er sich selbst m das Gefecht gestürzt, das mit so schwachen Kräften nicht zu gewinnen war. Nackt und verstümmelt findet man erst zwei Tage nach der Schlacht den Herzog im Teich von Saint-Jean, auf dessen Eisdecke gekämpft worden war.

Das Haus Valois in Burgund ist am Ende. Der französische König reißt sofort den großen Brocken der noch heute Bourgogne genannten

Provinzen um Dijon an sich. Frankreich rundet damit seinen Besitz im Südosten ab und erhält mit dem gesegneten Land eine Quelle künftigen Reichtums.

Die einzige Tochter des unglücklichen Herzogs Karl aber vermählt sich mit jenem Mann, dem sie in Trier versprochen wurde: Maximilian von Habsburg. Maximilian, zieht am 18. August 1477 in Gent ein. Maria begrüßt ihn mit den Worten: „Sei willkommen, edelstes deutsches Blut,

nach dem mein Herz sich so lange gesehnt“.

Der Rest von Karls Burgund wird habsburgisch; das Haus Österreich wächst über seine Erblande weit hinaus. Der Sohn aus der Verbindung Maximilians mit Maria, Phillipp (der Schöne) heiratet später die Erbin Spaniens, Johanna. Damit wird auch in Madrid ein Habsburger König: es ist Karl, der als Karl V. Kaiser wird und unter dessen Szepter das Haus Habsburg zur ersten Weltmacht aufsteigt.

Damit aber war der Keim für den latenten Konflikt zwischen Frankreich und den Habsburgern gelegt, der durch drei Jahrhunderte Europa in den Strudel nicht endender Händel und Auseinandersetzungen ziehen sollte —*der Frankreich und Österreich zu Erbfeinden machte.

In Trier war die Weiche 1473 gestellt worden: zum Aufstieg Habs-burgs und des französischen Königtums — zum Ende Burgunds, das kometenhaft am europäischen Horizont aufgetaucht und so plötzlich wieder verschwunden war.

Was blieb, ist der Versuch eines europäischen Großreiches ohne nationale Enge, der Ursprung für einzigartige Schöpfungen der Kunst und des menschlichen Geistes in der wohl bedeutendsten Epoche abendländischer Geschichte: im Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung