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Monarchie und Konstitution in den Niederlanden

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Als 1795 die Franzosen über die zugefrorenen Flüsse in Holland einmarschierten, bedeutete dies das Ende der Republik der Vereinten Niederlande. Die Eroberer stießen kaum auf nennenswerten Widerstand, und bereits am 18. Jänner mußte der Statthalter Wilhelm V. seine Abschiedsaudienz am Binnenhof im Haag erteilen. Am gleichen Tag fuhr er nach England ins Exil. Ein rühmloses Ende für einen Staat, der in zwei Jahrhunderten Weltgeschichte gemacht hatte.

Nach französischen Begriffen gab es ganz sonderbare Staatsverhältnisse in den Niederlanden. Geboren und zusammengefügt in einem achtzigjährigen Ringen mit der Weltmacht Spanien, wurde dieses Land doch niemals eine Einheit, wie zum Beispiel Frankreich es war, sondern es blieb ein mehr lockeres Bündnis von Städten. Die Städte waren Einheiten, kleine Mächte, sie trieben Handel und sandten ihre Abgeordneten in die „Generalstaaten“, die Bundesregierung, die Provinz war unmündig, insofern es sich nicht um das Steuerzahlen handelte. Die Holländer waren ein freiheitsliebendes Volk, streng kalvinistisch, und kluge Handelsleute. Ihre Schiffe fuhren über alle Weltmeere, und im fernen Osten lag das Märchenland Indien, das ihnen einen ungeahnten Reichtum hervorzauberte. Holland war damals eines der reichsten Länder der Welt, aber sein Volk hatte eine kältere Natur als die Franzosen, und war wenig emp-' fänglich für die Ideen der großen Revolution.

Frankreich und die französisch-freundliche Partei, „die Patrioten“, gingen gleich daran, den holländischen Staat nach französischem Muster umzumodeln. Die Generalstaaten wurden entlassen. An ihre Stelle trat eine „Nationale Versammlung", die als erste die Aufgabe hatte, dem Volk eine Konstitution zu geben. Nach einigen

Zwistigkeiten konnte diese 1798 verkündet werden.

Hatten früher nur die großen Steuerträger ein Wahlrecht gehabt — also tatsächlich der Adel und die reichen Bürger —, durften jetzt alle Holländer von zwanzig Jahren und älter wählen, wenn sie nur den Eid gegen Föderalismus, Aristokratie und gegen den Statthalter ablegten. Die neuen „Generalstaaten" wurden in zwei Kammern geteilt. Die erste Kammer entwarf die Gesetze, die zweite Kammer ratifizierte oder verwarf sie als Ganzes. Staat und Kirche wurden geschieden und die Staatsschulden mit denen Frankreichs zusammengefügt. Diese neue Ordnung brachte eine völlige Umwälzung im Staatsleben Hollands. Der Adel und die reichen Bürger, früher die Machthaber, wurden jetzt dem einfachen Bauern gleichgestellt. Jeden traf die Schmach, dem eigenen Fürstenhaus abschwören zu müssen. Den Kalvinern war es ein Greuel, daß sie nunmehr als Staatskirche ausgeschaltet wurden.

Und nicht zuletzt griff das verarmte Frankreich tief in den gutgefüllten Beutel des niederländischen Staatsvermögens.

Nein, diese Konstitution war den Holländern artfremd, und weil auferzwungen unbeliebt.

Frankreich machte in diesen Tagen Geschichte in erhöhtem Tempo. Mit dem Hochkommen Napoleons schlug es eine andere Richtung ein. Auch Holland erfuhr das in der Konstitution von 1801, nach der zwölf Personen die gesetzgebende Gewalt ausüben sollten, und die Generalstaaten nunmehr zusammengeschrumpft zu einer einzigen Kammer, die Gesetze nur noch unverändert ratifizieren oder verwerfen konnten. Wohl waren die Wahlberechtigten nicht mehr an den Eid gegen den Statthalter gebunden. Als durch die letzte Bestimmung die Treue an Oranien aufflackerte, beeilte sich Napoleon, 1804 dem niederländischen Gesandten in Paris, Rutger

Jan Schimmelpenninck, aufzutragen, die Niederlande auf eine monarchistische Reform vorzubereiten, die jedoch unter einer napoleonischen Krone erfolgen werde. Die Konstitution von 1805 gab Schimmelpenninck die Macht eines konstitutionellen Fürsten. Er allein hatte die Exekutivgewalt. Der Staatsrat, der ihm zur Seite stand, war nur ein beratendes Kolleg, dessen Mitglieder von Schimmelpenninck ernannt wurden. Die gesetzgebende Gewalt teilte Schimmelpenninck mit den Generalstaaten.

Die erste Konstitution war unitaristisch- demokratisch gewesen, die zweite eher föderalistisch, die dritte jedoch monarchistisch. Nur noch dem Namen nach war Holland eine Republik. 1806 ging Napoleon wieder einen Schritt weiter und setzte seinen Bruder, Ludwig Napoleon, als König in Holland ein. Die Konstitution dieses Jahres wechselte wenig den Kurs; die Krone wurde erblich und dem König noch mehr Macht zugeteilt.

1810 folgte dann die Angliederung an Frankreich mit allen Konsequenzen.

1813 brachte der Zusammensturz des französischen Kaiserreiches die Befreiung der aüsgeplünderten Niederlande.

Bereits 14 Tage, nachdem die Franzosen aus Amsterdam vertrieben worden waren — am 2. Dezember 1813 —, landete der Sohn des in der Verbannung gestorbenen Statthalters, Wilhelm I., in Scheveningen und wurde, noch bevor der Wiener Kongreß seine Einwilligung geben konnte, zum König ausgerufen. Nachträglich einigten sich die Diplomaten in Wien über die Vereinigung der früheren österreichischen Niederlande — das heutige Belgien — mit den nördlichen Niederlanden, denn wieder sollte Holland eine Barriere bilden an der nördlichen Grenze des noch immer gefürchteten Frankreichs, obgleich England nie gerne eine starke Handelsmacht am Kanalufer des Kontinents sah.

Wie die meisten Fürsten der Reaktion, gehörte Wilhelm I. der Gedankenwelt des Ancien Regimes an. Ungerne versprach er bei seiner Thronbesteigung eine Konstitution. Der Generalgouverneur der südlichen Niederlande, Baron de Vincent, sagt von ihm, er sei „zu sehr liberal, um König, und zu sehr König, um liberal zu sein“. Dennoch gilt Wilhelm I. als der tüchtigste der friesischen Nassau. Zwei Tatsachen jedoch verstand er nicht: daß das Volk eine Macht darstellte, mit anderen Auffassungen als es die fürstlichen von bloß zwanzig Jahren früher waren, und daß seine Untertanen in den südlichen Provinzen andere Ansichten hatten, als die Bevölkerung des Nordens.

Es gab alte Beschwerden. Im Norden wohnte ein Handelsvolk, danach bestrebt, das Zentrum des Landes zu bilden und seine eigenen Interessen zu fördern; im Süden ein während Jahrhunderte vom Norden ökonomisch geschädigtes Volk, überwiegend katholisch, zum Teil französischsprachig. Eine alte Kulturprovinz, in die sich der hohe Adel während des

Kampfes mit Spanien zurückgezogen hatte, und bis vor kurzem als letztes des reichen burgundischen Erbes der habsburgischen Krone, österreichisch regiert.

Die’ versprochene Konstitution wurde tatsächlich 1814 erlassen. Das Haus Oranien wurde souverän in beiden Linien, und der Fürst sollte dem kalvinistischen Glaubensbekenntnis angehören. Die Generalstaaten bestanden nur noch aus einer Kammer. Der König ernannte seine Minister und sie waren nur ihm verantwortlich. Die Staatsschulden vom Norden und Süden wurden zusammengefügt.

Genügend Zündstoff für den gärenden Süden! Diese Verfassung war ein Fehlgriff. Anstatt anbahnend zu wirken, gab sie dem Süden die Waffen in die Hand.

Die südlichen Niederlande — soweit liberal — waren unzufrieden mit der Konstitution, die von einer ministeriellen Verantwortlichkeit gegenüber dem König sprach, über die Pressefreiheit, über die Freiheit beim Unterricht, und über die Veröffentlichung der Staatsschulden aber schwieg. Die Katholiken konnten sich nicht mit dem Passus über das Glaubensbekenntnis des Königs abfinden und fürchteten, nicht ohne Grund, zurückgestellt zu werden.

Zwar wurde vereinbart, daß der Regierungssitz abwechselnd im Haag und in Brüssel sein sollte, aber schwerwiegender dürfte wohl gewesen sein, daß der Süden mit seiner Staatsschuld von 27 Millionen Gulden nun mitzahlen sollte an der Schuld des Nordens von 19.50 Millionen Gulden.

So war der Zustand, als 1830 in Frankreich die Julirevolution ausbrach. Am

25. August 1830 wurde in Brüssel Aubers Oper „La muette de Portici“, die den Aufstand der Neapolitaner von 1647 gegen Spanien zum Inhalt hatte, aufgeführt. Das war der Funke und im Nu erhob sich das Land in heller Empörung gegen das nordniederländische Regiment. Ein Einlenken der Regierung kam zu spät und ein Einfall der nordniederländischen Truppen nützte nichts, da sich die Großmächte in den Londoner Protokollen für eine Trennung der Niederlande aussprachen. Juni 1831 wählte der Süden Leopold von Sachsen-Koburg zu seinem König und trat unabhängig als Belgien in die Geschichte ein. Wilhelm I. hat sich diesen Verhältnissen nie fügen können. Acht Jahre später trat er zurück. Sein. Sohn Wilhelm II. war ein tüchtiger Soldat. Er hatte unter Wellington bei Vittoria und 1815 bei Quatre-Bras gefochten. Freundlich und kunstliebend, hätte er am liebsten das persönliche Regiment seines Vaters weitergeführt. Als daher die Liberalen 1844 um eine Verfassungsrevision riefen, wurde diese Forderung als unzeitgemäß verweigert. Bis 1848 —dieses schick- salsvolle Jahr für Europa — dauerte es bis der König dem verdienstvollen holländischen Staatsgelehrten Jan Rudolf Thor- becke den Auftrag zur Verfassungsrevision erteilte.

Es war nicht leicht, gerade zu der Zeit die gute Lösung zu finden, aber Thorbecke war der richtige Mann am richtigen Ort.

Ohne das Königtum zu einer fiktiven Macht zu degradieren, räumte er dem Volk einen mitbestimmenden Platz ein. Der König behielt die Exekutivgewalt und teilt die legislative Gewalt mit den Generalstaaten. Er erklärt Krieg, schließt Frieden und ernennt die Minister, aber diese — und das ist der Wendepunkt — sind nicht nur ihm, sondern dem Staate und somit dem ganzen Volk zur Verantwortung verpflichtet.

Die Generalstaaten werden wieder in zwei Kammern geteilt. Die erste Kammer wird gebildet aus den höchsten Steuerzahlern, die zweite Kammer wird durch alle großjährigen Einwohner frei gewählt. Sie entwirft die Gesetze, welche die erste Kammer als Ganzes ratifizieren kann, oder auch verwerfen. Die zweite Kammer hat das Enquete-Amendement- und Initiativrecht.

Der große Umschwung zum demokratischen Gedanken ist ersichtlich. Die Reform kam zu rechter Zeit und wurde in einer dauerhaften Form verwirklicht. Weil das Volksbegehren richtig verstanden und richtig geführt wurde, brach in den Niederlanden keine Revolu-

tion aus und wurde die große Evolution, die sich bis zum heutigen Tage weiter vollzieht, hier gleichmäßig und deshalb viel gesünder angefangen. Das Haus Onanien hat sein Volk verstanden.

Die am 31. August 1948 zurückgetretene Königin Wilhelmine sprach im .Geiste dieser Verbundenheit von Fürst und Volk, als sie sagte: „Ich gedenke der Tausende, die ihr Leben hingaben, und allen den Lebenden und Toten danke ich für ihre Vaterlandsliebe und für das, was sie mir gegeben haben in ihrer Zusammenarbeit.“

Und in ihrer tiefergreifenden Rede am 6. September ip der neuen Kirche zu Amsterdam, knapp vor der Eidesleistung, sagte als Thronerbin Königin Juliana den Generalstaaten und ihrem Volk:

„Seit vorgestern bin ich zu einer Aufgabe gerufen, die so schwer ist, daß keiner, der sich auch nur einen Augenblick in sie eingedacht hat, sie begehren würde, aber auch so schön, daß ich nur sagen kann: wer bin ich, daß ich dies tun darf.“

Wahrhaft königliche, aber auch menschliche Worte.

Das holländische Volk hat seine Fürstin verstanden. Hier wirkt ein gegenseitiges Vertrauen, ohne das keine Regierung Gedeihliches leisten kann.

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