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Wie aus einer Tänzerin eine Kaiserin wurde

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Verhältnismäßig selten müssen lebendige Menschen aus einem Theaterstück erfahren, daß sie tot sind, und zwar bereits seit Jahrzehnten. Hin und wieder kann aber auch so etwas passieren. Seit einigen Monaten gibt es in den Budapester Buchhandlungen einen Band mit dem Titel zu kaufen: „Der Morgen ist mein Bruder.“ Er enthält fünf Bühnenstücke von Gyula Hernädi, einem Autor, der sich vor allem mit seinen Drehbüchern zu den Fümen des außergewöhnlichen, nach der Symbolsprache der Balladen suchenden Regisseurs Miklös Jancsö einen Namen gemacht hat. Gleich das erste Stück heißt „Königliche Jagd“ und trägt den Untertitel „Der letzte Habsburger“. In diesem Stück wird das letzte Kaiserpaar an einem Tag im späten Frühling 1921 irrtümlich erschossen.

Sie sind beide tot: der Kaiser Karl (als ungarischer König Karl IV.) und die Kaiserin und Königin Zita. Wer es nicht glauben will, besuche das Pešti Szinhäz (Pester Theater), wo das Schauspiel seit kurzem gespielt wird, und zwar offenbar mit großem Erfolg. Die Direktion hätte die betagte Kaiserin und Königin Zita zur Premiere eigentlich einladen können.

„Die Geschichte von Karl IV. und Königin Zita ist traurig und rührend“, schreibt Jülia Szekrėnyesy in der Neujahrsnummer der Wochenzeitung „Ėlet ės irödalom“ („Leben und Literatur“), „denn das Pech dieses Königs war größer als seine Tragödie. Es ist offenbar nicht nur seine Schuld, wenn er seinen Namen in der Geschichte nicht mit seinen Taten, mit denkwürdigen Schlachten oder wichtigen Gesetzen verewigt hat, sondern mit seinem fast schon ehrwürdig fruchtlosen Bemühen, mit dem er nicht ganz unbegründet und unlogisch vom Thron Ungarns Besitz ergreifen wollte.“ Und bereits in der Weihnachtsnummer der Illustrierten „Film Szinhäz Muzsika“ („Film, Theater, Musik“) fällt Käroly Bulla ein positives Urteil: „Dieses Stück ist wegen verschiedener Hindernisse mehrere Jahre hindurch nicht auf die Bühne gelangt, und wie es in solchen Fällen schon ist: nachdem es in einer Zeitschrift ürid"üi*einem Sammelband erschienen’ war, sagte (und schrieb) man allgemein, es sei eines der gelungensten ungarischen Theaterstücke der letzten Jahre. Es stimmt nachdenklich, daß das Gerede nun durch das Werk auf der Bühne interessanterweise bestätigt worden ist.“

Ende der Zitate. Hinein in das Stück. Also.

Akt 1. Der Graf Päl Erdödy veranstaltet im späten Frühling 1921 ein merkwürdiges Kriegsspiel. In seinem Schloß in Westungarn versammelt er eine Gruppe von Aristokraten und eine Schar Söldner, die nun gegeneinander antreten sollen. Es ist in diesem Spiel alles erlaubt. Alles. Eine Gräfin Schönborn nimmt am Spiel ebenso teil wie ein Prinz Odescalchi, eine Gräfin Esterhazy und eine Gräfin Mensdorff. 48 Stunden dauert der sonderbare Krieg. Er ist noch nicht zu Ende, da treffen im Schloß zwei Gäste ein. „Der Mann, mittelgroß, über seinem Mund der Schatten eines dunklen Schnurrbartes; der Gesichtsausdruck der Frau wirkt durch die spröden Züge disharmonisch.“ Die in das Schloß eingedrungenen Söldner bedrohen die neuen Gäste. Der Mann nennt sich Alfred Moreno, Mitglied des Internationalen Roten Kreuzes. Die Frau wirkt attraktiv. Sie wird von ihrem Mann verteidigt. Beide werden von den Söldnern erschossen. Nun ist das Spiel zu Ende. Die Opfer des Mordes sind:

König KafFühöE Kaiše rin Z ita.’ Ihr Tod wird verheimlicht,’ die Mörder werden gerichtet.

Akt 2. Ein ziemlich übel zugerichteter Mensch wird zum Grafen Erdödy geführt: ein gewisser György Schrei, 31 Jahre alt, Jurist einer Firma in Siebenbürgen, als vermeintlicher Freund der Roten von Weißgardisten verdroschen. Schrei sieht genauso aus wie der ermordete König. Danach empfängt Erdödy eine junge Frau: Eva Aldoböi, „feurige ungarische Tänzerin“ aus einem Nachtlokal in Berlin. Sie sieht der toten Königin zum Verwechseln ähnlich. Schrei erfährt, daß der König einem Unfall zum Opfer gefallen sei: er, Schrei, soll den König spielen, um die erschütterte Königin zu schonen. Die Tänzerin bekommt den Auftrag, dem König gegenüber als die Königin aufzutreten, da diese irrtümlich erschossen worden sei. Sehre; und die Aldoböi spielen ihre Rollen perfekt. Es scheint Erdödy gelungen zu sein, das echte Königspaar durch zwei Kunstfiguren zu ersetzen und dadurch die Restauration der Habsburger-Monarchie in Ungarn zu sichern. Doch der Reichsverweser Horthy ahnt etwas. Das falsche Königspaar muß das Schloß augenblicklich verlassen.

Akt 3. In einer Kaserne in Öden bürg bereitet der falsche König seine Rück kehr vor. Er befindet sich in Gesellschaft seines neuernannten Kriegsministers Lehär sowie anderer Offiziere und Politiker. Unter ihnen sind Rä- kovszky, Osztenburg, Beniczky und Gustav Gratz zu erkennen. Erdödy kommt. Er fordert den falschen König auf, den zu diesem Zeitpunkt aussichtslosen Putschversuch zu verschieben. Aber die Kunstfiguren haben sich selbständig gemacht. Der falsche König läßt Erdödy verhaften. Längst haben Schrei und die Aldoböi das Spiel durchschaut, die wahre Identität des anderen erkannt. Sie gieren-nach Macht. Der Putsch mißlingt.

Erdödy besucht seine nun völlig verstörten Kreaturen, benützt sie, bis sie von Offizieren der Entente übernommen werden können. Die beiden sollen nach Madeira. Erdödy wird ihre Rückkehr auf den Thron bei günstigerer Gelegenheit noch vorbereiten. In Wirklichkeit beauftragt er zwei Mittelsmänner, zuerst den falschen König und dann auch die falsche Königin auf Madeira unauffällig aus dem Weg zu räumen. Schrei und die Aldoböi gehen in die Emigration.

In einer letzten Szene (Seeligspre- chungsprozeß König Karls am 14. März 1960 zu Ullhausen) wird uns mitgeteilt, daß Erdödy 1922 verstorben ist. Deshalb wurde die Aldoböi als Zita nicht mehr vergiftet! Erdödys Tagebuch wird vorgelesen - und nun erst erfahren wir, daß wir bisher nichts anderes gesehen haben als Szenen aus diesem Tagebuch. Der Ordinarius des Prozesses will die Seligsprechung trotz allem befürworten, da auf diese Weise auch die Legitimität der Thronfolge von „Habsburg Ottö“ gestärkt werden kann.

Ende des Stückes.

Die Kritik rühmt die „fesselnde, feine, elegante“ Regie, die „taktvollen, geschmackvollen“ Bühnenbilder und Kostüme und besonders den Schauspieler Sändor Szabö in der Rolle des Grafen Erdödy: „Einen gemütlichen Schamanismus vereint er mit den tadellosesten Herrenmanieren: ein ungezwungener Manipulator, comme il faut.“ Und die launige Rezension schließt mit der Überzeugung, daß die Aufführung als eine nicht nur erfolgreiche, sondern auch gut gelungene Produktion lange Zeit hindurch viele Zuschauer werde interessieren können. Was wir ebenfalls hoffen wollen.

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