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Neutralität

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Die innenpolitische Debatte, Diskussion und Auseinandersetzung im Nationalrat, Bundesrat und in der Presse über Oesterreichs Stellung zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und in der Kleinen Freihandelszone setzt sich in den Parteien und Interessenverbänden fort. Quer durch manche Fronten von gestern und heute. Man kann schon jetzt sagen: seit der wenig glücklichen „Entnazifizierung“ hat keine Frage die österreichische Oeffentlichkeit so sehr bewegt, wie eben diese: womit nicht einfach gesagt werden soll, daß diese beiden Fragen an einer Leine hängen.

Aufmerksam aber sollte der gelernte Oesterreicher einen Zusammenhang beobachten, der sich seit Abschluß des Staatsvertrages lückenlos beobachten läßt: die gegenwärtige Kampagne gegen jene Oesterreicher, die nicht für einen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sind, ist eine direkte Fortsetzung der Kampagne, die genau am Tag des Staatsvertrages begann und in wechselnder Argumentation ein Ziel beharrlich und mit großer Wendigkeit verfolgt: die Denunziation der österreichischen Neutralität als eines „kleineren Uebels“. das „uns von den Russen auferlegt“ wurde. Die Neutralität also als „Preis für den Staatsvertrag". ,

Wir erinnern uns, wie wir staunend diese These etwa von sehr ehrenwerten Vertretern unseres höheren Schulwesens, etwa auf einer Tagung des Unterrichtsministeriums vor einigen Jahren (Thema war: die staatspolitische Erziehung der Jugend in österreichischem Sinne) vernahmen; sie wurde da laut vorgetragen und stieß bei den meisten der prominenten Teilnehmer nicht auf Widerspruch.

Seither wird dieses beachtenswerte Spiel mit immer neuen Karten, wie der Wind sie zuträgt, weitergespielt: man sagt „Europa“ und meint eine enge wirtschaftliche und politische Bindung an einen bestimmten Mächteblock. Man sieht die Neutralität Oesterreichs vorwiegend negativ, wagt es gar nicht, sie positiv den Kindern und Erwachsenen unseres Volkes vorzustellen. Man droht, leise zunächst, dann immer lauter, mit dem Flungertuch. Wann wurde Oesterreich zuletzt mit dem Hungertuch gedroht? Vor einem Vierteljahrhundert. Man muß es wagen, diesen Zusammenhang anzusprechen, gerade weil er in ehrenwerten Sprechern dieser gefährlichen These weit mehr unbewußt als bewußt wirkt. Wie alarmierend diese ständige Drohung und Denunziation ist, hat soeben Bundeskanzler Raab in einem Aufsatz, der weit über Oesterreich hinaus Beachtung gefunden hat, dargetan: „Unsere Neutralität ist mehr wert als ein Linsengericht.“ Der Bundeskanzler erklärt da abschließend: „Es ist selbstverständlich, daß wir dafür Sorge tragen werden, daß Oesterreich nicht in Neutralität verhungert und daß wir nicht in eine verhängnisvolle wirtschaftliche Isolierung geraten. Es ist aber ebenso selbstverständlich, daß uns die Neutralität ein kostbares Gut ist, das wir nicht um das Linsengericht eines scheinbaren materiellen Vorteiles willen voreilig und leichtfertig gefährden wollen.“

To whom.it may concern: Empfehlungsschreiben der westlichen Welt tragen bekanntlich diese Adresse, die etwa übersetzt werden kann: „An alle ehrenwerten Personen, die es angeht.“ An alle ehrenwerten Personen in allen Lagern sind diese Worte gerichtet; und an ein Volk, das aufgeklärt werden soll, was gespielt wird. Jeder Selbstverzicht, jede Preisgabe eines Teiles der österreichischen Neutralität, die freiwillig und nach bestem Wissen und Gewissen von den Staatsmännern Oesterreichs angestrebt und erreicht wurde, ist ein Schritt zum Verlust unserer Freiheit.

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