Vom Weltkrieg zum Staatsvertrag

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Die Ausstellung auf der Schallaburg und der dazugehörige Beitragsband zeigen viel Neues über das erste Nachkriegsjahrzehnt in Österreich.

Seine Form entspricht seinem beinahe mythischen Status als zentralem Dokument der zweiten Republik: Wie ein mittelalterlicher Foliant sieht er aus, der österreichische Staatsvertrag. Dunkelrote Wachssiegel neben den Unterschriften. Und ein wunderlicher Farbtupfer: Das kräftige Grün der Tinte, mit der Leopold Figl seinen Namen unter jene der alliierten Außenminister und Hochkommissare setzte. Der österreichische Staatsvertrag - seit Mitte Mai ein originalgetreues Faksimile, nachdem das Original zuerst zur Parallelausstellung "Das neue Österreich" im Wiener Belvedere weitergereicht und danach wieder zurück nach Moskau transportiert wurde - ist das Kernstück der Ausstellung "Österreich ist frei" auf der Schallaburg nahe Melk, der Beitrag des Landes Niederösterreich zum "Gedankenjahr 2005".

Noch nie gezeigte Dokumente

Eine exzellente Ausstellung, die einem Geschichtsbuch gleicht, durch das man hindurchgehen kann. Noch nie gezeigte Dokumente aus russischen Archiven und rund 1000 Leihgaben aus ganz Österreich illustrieren die optisch wie inhaltlich hervorragend aufbereiteten Texttafeln, die durch ein Jahrzehnt österreichischer Geschichte führen: Das Leid der Menschen in den letzten Kriegstagen und der unmittelbaren Nachkriegszeit, ob Österreicher oder in Österreich Gestrandete, ob Verfolgte oder Wehrmachtsangehörige, ob Bombenopfer oder vergewaltigte Frauen; der Alltag der Nachkriegszeit von der Lebensmittelkartenwirtschaft bis hin zum Wiedererstehen der österreichischen Ökonomie, von den Suchlisten und Heimkehrertransporten bis zum Wiederaufbau von Burgtheater und Staatsoper. Und natürlich der Weg zum Staatsvertrag. Gezeigt wird ein Originaltisch, auf dem das Dokument unterzeichnet wurde und der Nachbau der Kabine jenes Flugzeugs, in dem die österreichische Delegation zu den finalen Verhandlungen nach Moskau geflogen wurde.

Bleibendes Standardwerk

Die Schau schließt zwar am 1. November endgültig ihre Pforten, neben der Erinnerung wird aber etwas Konkretes bleiben von ihr: nämlich der Beitragsband zur Ausstellung, der nichts weniger ist als ein Standardwerk über den Staatsvertrag und die Zeit von 1945 bis 1955. Was Kurt Scholz in der Furche (21/05) der Ausstellung selbst bescheinigte, gilt auch für den Beitragsband. Die im Vorfeld geäußerten Befürchtungen von Kritikern, hier werde ein einseitiges Geschichtsbild verbreitet, sind nicht eingetreten. In dem von Stefan Karner und Gottfried Stangler herausgegeben, in Titel und Sujet mit der Ausstellung identischen Band kommen von Winfried R. Garscha bis hin zu Lothar Höbelt Historiker aus allen Bereichen des politischen Spektrums zu Wort. Augenscheinlich wird diese Ausgewogenheit etwa am Beispiel des von der kpö initiierten Oktoberstreiks 1950, der ja noch heute als "kommunistischer Putschversuch" durch den politischen Diskurs geistert. Dezidiert wird diese Sichtweise als "fälschlich" bezeichnet, ohne dass freilich der Hinweis darauf fehlt, dass es innerhalb der kpö sehr wohl Kräfte gab, welche die Errichtung einer "Volksdemokratie" anstrebten und damit die Beseitigung der Demokratie.

Der Alltag bis 1955

Von den Kriegsverbrechens-Prozessen bis zu Verschleppungen durch die Sowjets, vom österreichischen Kino jener Zeit bis zu den sportlichen Erfolgen der jungen Republik werden gleich wie in der Ausstellung alle möglichen Aspekte der Zeit von 1945 bis 1955 abgehandelt. Im Band ist etwa nachzulesen, um nur einen Punkt willkürlich herauszugreifen, warum Leopold Figl 1953 Julius Raab als Bundeskanzler weichen musste und warum es dennoch der nunmehrige Außenminister Figl war, der einer jubelnden Menge den Vertrag vom Balkon des Belvedere entgegenhielt. (Raab ließ seinem Freund und dem eigentlichem Vater des Staatsvertrages den Vortritt als Genugtuung für die Kränkung, aus övp-internen Gründen aus dem Amt gejagt worden zu sein.)

Auch zum Staatsvertrag selbst liefert der Band Aspekte, die wohl den meisten Österreichern unbekannt sind. Zum Beispiel die erstaunliche Tatsache, dass nicht nur Österreich, die Sowjetunion, die usa, Großbritannien und Frankreich Vertragspartner waren, sondern insgesamt 13 Staaten. Artikel 37 nämlich erlaubte es allen Ländern, die sich 1945 mit Deutschland in Krieg befunden hatten, dem Staatsvertrag mit den im Prinzip selben Rechten beizutreten wie die vier Alliierten. Die Tschechoslowakei und Jugoslawien waren die ersten beiden Länder, die davon Gebrauch machten; Ende 1956 schloss sich Mexiko an, das ja seinerzeit als einziges Land der Welt beim Völkerbund Protest gegen den "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland eingelegt hatte. Als letztes trat 1961(!) Australien dem Staatsvertrag bei.

Auch wird die Frage angeschnitten, welche rechtliche Relevanz der Staatsvertrag heute noch besitzt. Zum einen nämlich wurde ein Teil seiner Bestimmungen 1990 für obsolet erklärt, andere als "erledigt" abgehakt; weitere Regelungen - etwa die Bestimmungen über die Menschenrechte - sind durch spätere Akte der österreichischen Gesetzgebung oder internationale Abkommen überholt. Zum anderen stellt sich die Frage, ob der Staatsvertrag durch die grundlegende Änderung der Umstände nicht obsolet sei ("clausula rebus sic stantibus", wie die Juristen sagen). Immerhin wurde der Vertrag unter politischen Grundvoraussetzungen abgeschlossen, die heute schlicht und einfach nicht mehr existieren.

Noch aber ist die Ausstellung selbst zu besichtigen. Besonderes Augenmerk wurde übrigens darauf gelegt, die Nachkriegszeit auch Kindern und Jugendlichen nahe zu bringen. So wird jeden Sonntag und Feiertag ein Familienprogramm geboten. Das bedeutet spezielle Familienführungen durch ein Jahrzehnt österreichische Zeitgeschichte und eine ganztägig betreute Ausstellungswerkstatt, die Kindern die Nachkriegszeit aus ihrer Sicht veranschaulicht: der von Improvisation geprägte Alltag, etwa die Wiederverwertung von Materialien, die von den Zerstörungen des Krieges zurückblieben. Schulwochen mit Spezialangeboten gibt es von 20. bis 24. Juni und vom 19. bis 23. September. Kindern, die noch zu klein sind für diese Aktivitäten, steht ein schöner Spielplatz in der Nähe des Burgtores zur Verfügung.

Österreich ist frei!

Der Österreichische

Staatsvertrag 1955

Ausstellung des Landes

Niederösterreich auf der

Schallaburg

Bis 1. November

Montag bis Freitag 9 bis 17,

Samstag, Sonn- und Feiertag 9 bis 8 Uhr

Österreich ist frei!

Der Österreichische

Staatsvertrag 1955

Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005. Hrsg. von Stefan Karner und Gottfried Stangler

Verlag Berger, Horn-Wien 2005, 462 Seiten

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