"Bitte weg von der Droge Staat"

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Wie liberal, konservativ - oder sozialistisch - ist die Volkspartei? staatssekretär Mahrer über das neue Grundsatzprogramm der ÖVP.

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Wie liberal, konservativ - oder sozialistisch - ist die Volkspartei? staatssekretär Mahrer über das neue Grundsatzprogramm der ÖVP.

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Vergangene Woche hat sich die ÖVP ein neues Grundsatzprogramm gegeben. Harald Mahrer, Staatssekretär für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft sowie Präsident der Julius Raab Stiftung, ist der Mastermind hinter dem zugrundeliegenden "Evolutionsprozess". Ein Interview über die Selbstsuche der Volkspartei.

Die Furche: Herr Staatssekretär, wie würden Sie einem Außenstehenden erklären, was seit vergangener Woche neu ist an der ÖVP?

Harald Mahrer: Ich würde es so beschreiben: Jemand, der vom Weg abgekommen ist, kehrt wieder dorthin zurück, wo er hingehört - nämlich zur Position: Der Staat ist für die Bürger da und nicht umgekehrt. Lange in einer Koalition zu sein führt zu Abnützungserscheinungen. Wir haben auf unserer Autobahn wieder klare Leitplanken aufgestellt. Die Spuren kann man wechseln, aber es muss klar sein, wann jemand abfährt.

Die Furche: Wo genau ist denn die ÖVP vom Kurs abgekommen?

Mahrer: Zum Beispiel bei der Güterabwägung zwischen Freiheit und Sicherheit. Da geht es um eine heikle Balance. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir über Nacht einen Überwachungsstaat, der alle Bürger total kontrolliert. Die Frage ist, ob wir scheibchenweise unsere über Jahrhunderte erarbeiteten Bürgerrechte beschneiden wollen. Ein anderer Bereich ist die Sozialpolitik: Die ÖVP hat in den letzten 20 Jahren keine bürgerliche Sozialpolitik betrieben -also Hilfe zur Selbsthilfe oder Hilfe auf Zeit -, sondern jene sozialdemokratischer Prägung mitunterstützt und möglichst viel verteilt. Nun sagen die Leute: Es zahlt sich für mich nicht mehr aus, arbeiten zu gehen. Ich bezeichne das als "Intensivierung der Droge Staat" - bis alle nur noch Staatsjunkies sind.

Die Furche: Kompromisse sind aber das Wesen von Politik, insbesondere bei gleich starken Koalitionspartnern. Die Alternative wäre ein Mehrheitswahlrecht - wobei die minderheitenfreundliche Version der Jungen Volkspartei, bei der die stimmenstärkste Partei im Nationalrat ein Mandat weniger als die Mehrheit erhält, auf dem Parteitag die nötige Zweidrittelmehrheit haarscharf verpasst hat. Sind Sie enttäuscht?

Mahrer: Ich bin prinzipiell ein Fan von einem Mehrheitswahlrecht. Aber man sieht auch, dass es - je nachdem, wie viele Fraktionen antreten und wie der Zuspruch in den unterschiedlichen Wahlkreisen ist - auch zu unklaren, uneindeutigen Situationen kommen kann. Es gibt für beide Seiten in dieser Frage gute Argumente.

Die Furche: Ein Gegenargument hat Andreas Khol auf dem Parteitag gebracht: Er will nicht das Risiko eingehen, mit einem Mehrheitswahlrecht die Freiheitlichen an die Macht zu bringen

Mahrer: Man kann sich natürlich ein Wahlrecht bauen, um jemanden in der Regierung zu verhindern, aber das ist nicht meine Haltung. Politik bedeutet für mich auch, ein Risiko einzugehen für die Dinge, die man durchbringen will. Deshalb glaube ich auch, dass die These falsch ist, dass Reformer abgestraft werden. Die Hälfte der europäischen Länder zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, und wenn man die Wahrheit sagt, wird man auch Zuspruch ernten.

Die Furche: Manches ist aber offenbar unzumutbar geworden: Die meisten Kommentatoren, die sagen, die ÖVP solle moderner, liberaler und urbaner werden, meinen damit nicht Wirtschafts- und Demokratie-, sondern Familien- und Bildungspolitik...

Mahrer: Nur weil irgendeine Mainstream-Kommentatorenschaft meint, etwas sei liberal, muss es das aber nicht sein. Es geht einfach um bestimmte Vorstellungen, wie Welt sein soll. Punkto Familie haben wir uns jedenfalls klar zum Leitbild der Kernfamilie bekannt - und als Neuerung festgeschrieben, dass wir auch jede andere Form des Zusammenlebens respektieren und unterstützen, in der Verantwortung füreinander übernommen wird, sei es in Patchworkfamilien oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Dadurch wird ja auch niemandem etwas weggenommen.

Die Furche: Es würde auch Eheleuten nichts weggenommen, wenn schwule und lesbische Paare heiraten dürften

Mahrer: Das ist richtig. Aber das Rechtsinstitut und das Sakrament der Ehe sind jahrzehntelang nicht unterschieden worden, und beides wird noch immer von gar nicht so wenigen als ident gefühlt. Deshalb ist es aus meiner Sicht vertretbar, dass die Ehe für eine Partei wie die unsere eine besondere Stellung einnimmt.

Die Furche: Im säkularen Staat ist die Politik aber nicht für die Sakramente zuständig, sondern kann nur etwas unterstützen oder Verbote abschaffen. Wie soll sich also das neue Parteiprogramm im Gesellschafts- und Bildungsbereich konkret niederschlagen?

Mahrer: Es gibt vom Rechtskomitee Lambda die berühmte Liste von Diskriminierungen gleichgeschlechtlicher Paare. Meine Erwartung ist, dass von dieser Liste nicht viel übrig bleiben wird. Auch wenn wir unser Idealbild von Familie haben, müssen wir uns an den heutigen Lebenswelten orientieren. Das gilt auch für den Bildungsbereich - etwa die Ganztagsbetreuung: Es gibt heute eine ganz andere Notwendigkeit, Eltern bei der Kinderbetreuung, aber auch beim Erziehen zu unterstützen.

Die Furche: Apropos - wie stehen Sie zum vieldiskutierten Erlass über Sexualerziehung? Familienministerin Sophie Karmasin hat zuletzt einen "Neustart" gefordert

Mahrer: Man sollte sich tatsächlich nochmals anschauen, ob es hier zur Verstaatlichung der Sexualerziehung und zu einem Aus-der-Verantwortung-Nehmen der Eltern kommen kann. Ich bin jedenfalls dagegen, dass man den Leuten neue Verordnungen an den Kopf wirft, ohne sie einzubinden.

Die Furche: Bis 17. November will die Regierung ihre Bildungspläne präsentieren. Die ÖVP hat sich nun einmal mehr zum Gymnasium bekannt. Warum dieses Signal, obwohl alle wissen, wie mühsam die Schnittstelle mit zehn Jahren ist -und obwohl die Volkspartei im Westen anders denkt?

Mahrer: Weil ein Verschwinden des Gymnasiums das Gesamtsystem nicht besser macht. Das Schnittstellenproblem haben wir hauptsächlich im Ballungsbereich, verschärft durch die Migrationsfrage, mangelnde Sprachkenntnisse und andere Familienstrukturen. Aber in Wirklichkeit haben wir die Probleme hier schon in der Volksschule. Wir haben 15 Jahre lang die Augen zugemacht, und nun glaubt man, das Problem mit der Gesamtschule lösen zu können. Das wird nicht funktionieren! Wir glauben, dass die Lösung in mehr Autonomie, mehr Investitionen in die Elementarpädagogik, einen einheitlichen Qualitätsrahmen sowie mehr Transparenz liegt.

Die Furche: Apropos - sollen dazu auch die Bildungsstandards veröffentlicht werden?

Mahrer: Ja, mich interessiert, wie Standards umgesetzt werden, wie sich die Lehrer engagieren und ob sie sich laufend weiterbilden. Ich bin ein großer Fan von Transparenz: Lieber ein gläserner Staat als gläserne Bürger.

Das Gespräch führten Doris Helmberger und Rudolf Mitlöhner

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