Moria - © Foto: APA / AFP / Louisa Gouliamaki

Moria: Eigentum vor Menschlichkeit

19451960198020002020

Die Flüchtlingspolitik teilt die Bevölkerung und spaltet das christlich-soziale Lager. Warum die harte Haltung der Regierung trotzdem viele anspricht und welche Konsequenzen dies hat. Eine Analyse.

19451960198020002020

Die Flüchtlingspolitik teilt die Bevölkerung und spaltet das christlich-soziale Lager. Warum die harte Haltung der Regierung trotzdem viele anspricht und welche Konsequenzen dies hat. Eine Analyse.

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist ein möglicherweise unmodernes Erbe der Diskussionskultur – aber einst hieß es, um sich eine eigene ausgewogene Meinung zu einem Thema zu verschaffen samt Fakten, Tatsachen und Perspektiven, müsse man versuchen, alle Meinungen zu einem Thema vorurteilsfrei zu betrachten. Die Empörung über die Auslassungen Außenminister Alexander Schallenbergs über die Flüchtlinge von Moria haben derartige Emotionen erzeugt, dass das zugegeben schwerfällt. Von der Unmenschlichkeit der türkisen Politik reden die einen, von dem einzig richtigen rationalen Zugang die anderen.

Auf Facebook wurde im Zuge des Gefechtes sogar eine Schallenberg’sche Vorfahrin aus dem 17. Jahrhundert ausgegraben, die angeblich ein bei den Türken gefangen genommenes Mädchen schlecht behandelt hat. Nun ist die Sache aber tatsächlich zu ernst, um über Sippenhaftung abgehandelt zu werden. Vielmehr sollen die Argumente einmal „blank“ betrachtet werden, bevor sie zwischen den rhetorischen Fronten als „Zynismus“ oder „naive Menschlichkeit“ aufgerieben werden.

Alles oder nichts

Unstrittig ist, dass Schallenberg wie wohl alle Beteiligten dieser Diskussion zu Recht eine gesamteuropäische Asyl-­ und Immigrationspolitik vermissen. Der Streit entspinnt sich nun daran, was daraus abzuleiten sei. Schallenbergs Regierungsmeinung ist, dass niemand hereingelassen werden darf, solange es dieses Abkommen nicht gibt. Dass also kein Anlassfall geschaffen werden dür­fe, der Menschen dazu einlade, nach Europa zu kommen. Auf der anderen Seite stehen jene, die zwar ebenfalls für eine Gesamtlösung sind, aber eine Politik nach Augenmaß im Sinn der Menschenrechte fordern, um tote Kinder auf Lesbos zu vermeiden.

Navigator

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Im Grunde widerspiegeln diese Standpunkte eine sehr alte Diskussion um das Recht an sich. Der europäische Staat wird nämlich gerne als christlich, humanistisch und demokratisch ausgerufen, schützt aber in seiner Sub­stanz vor allem eines: die Eigentumsordnung. Und tatsächlich geht es in der Flüchtlingsdebatte im Zentrum um genau das. Man braucht nur einmal näher zu betrachten, bei welchen Themen die Flüchtlingsdebatte von 2015/16 landete: bei der Sozialhilfe oder bürokratisch-personeller (und damit letztlich finanzieller) Überforderung durch die Flüchtlinge. Selten gab es so viel Aufgeregtheit wie durch das Gerücht, die Caritas vermittle den Ankommenden Handys auf Kosten des Steuerzahlers.

Das Eigentum auch im Sinn des Gemeineigentums und sein Schutz haben also auf den ersten Blick nichts mit Moria zu tun, auf einen zweiten aber sehr viel. Historisch gesehen ordneten Gesetzgeber die Rechte dessen, der ins Land kommen möchte, den eigenstaatlichen, bürgerlichen Interessen über Jahrhunderte unter. Von Solon über Aristoteles bis zu den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts gilt der Fremde als nicht gleichberechtigt – und er ist es bis heute nicht, es sei denn in Ausnahmefällen (etwa Flüchtlinge). Zudem werden diese schwer errungenen Positionen immer wieder von Politikern zur Diskussion gestellt.

Prägend für die Debatte ist nicht, was Flüchtlinge zur Integration brauchen, sondern was sie denn nicht alles bekommen.

Die Schallenberg’sche Argumentation passt in dieses Schema: Zuallervorderst ist das eigene System zu schützen, auch wenn dadurch das Leben von „fremden“ Menschen gefährdet wird. In diesem Sinn ist es auch wenig erstaunlich, dass Individuen, die sich als „konservativ“ bezeichnen, der Meinung Schallenbergs den Vorzug geben. Es ist eine Gruppe, die im Herzen der ÖVP angesiedelt ist und das Wort „Heimat“ mit großer Überzeugung ausspricht – und die wohl jedem Opfer von Naturkatastrophen gerne eine Spende überweist, solange die Betroffenen nur dort bleiben, wo sie sind.

In diesem Sinn steht das Konservative da für die Konservierung der Eigentums­ und also Machtverhältnisse. Diese Gruppe bekennt sich vielfach zu christlichen Werten – versteht darunter allerdings traditionelle Bräuche und Sitten, die die Gesellschaft und ihre (Eigentums-­)Ordnung rahmen. Die Religion firmiert unter dem Heimatbegriff – und diese Heimat ist national oder volkskulturell gemeint.

Konservative Werte

Gegen diese Hauptströmungen der abendländischen Staatsphilosophie traten natürlich zu allen Zeiten Menschen auf, wie sie es heute tun. Waren es die Sophisten in Griechenland, die allen Menschen unveräußerliche Rechte zugestehen wollten, so sind es heute all jene vielen, die in Notsituationen und immer wieder auch in Bezug auf christliche Traditionen und Überlieferungen Menschen in Not helfen wollen.

Tatsächlich hat Schallenberg recht, für diese Menschen wird es immer wieder ein Moria geben, und immer wieder werden ihnen Tausende schutzwürdig genug erscheinen, um sie ins Land zu holen und mit ihnen zu teilen. Und sie werden sich ebenfalls mit Recht wertkonservativ nennen. Nur haben sie längst die Konzentration auf das Eigentumsrecht aufgegeben, von dem ihre Gegner aus argumentieren. Sie legen das Christentum und seine Werte global und interkulturell aus. Ihnen kann die Heimat und die Tracht ebenso wichtig sein wie den anderen, aber sie fühlen sich in ihrer Habe durch die Teilhabe anderer nicht angegriffen, sondern vielmehr bereichert. Das Leid anderer hängt in seiner Bewertung nicht davon ab, wo es geschieht.

Im Gegenteil, je mehr dieses Leid durch das Ziel Europa verursacht wird, desto verantwortlicher fühlen sie sich. Denn tatsächlich kann man meinen, dass die Migration in ihrer Gesamtheit durch die Sicherheit und den Wohlstand in Europa erzeugt wird. Aber man kann auch meinen, dass das unendliche Leid und die Unmenschlichkeit von Moria durch diesen Wohlstand erzeugt werden. Und in diesem Sinn ist jemand, der dies so erkennt, verantwortlich.

Wie auch nicht? Diese zweite Gruppe hat als Grundlagen ebenfalls auf eine lange Tradition zu verweisen und auch auf eine lange Kette christlicher Denker, unter ihnen der vielleicht größte Theologe Europas: Thomas von Aquin. In der von ihm geführten Debatte um das Naturrecht des Menschen geht es letztlich auch darum, was denn nun vorrang habe, der Vermögens- oder der Menschenschutz. Thomas urteilt hier eindeutig: In Zeiten der Not muss auch das „Wegnehmen“ von Gütern reicher Menschen erlaubt sein, wenn die Armen Hunger leiden. Die Argumentation des Theologen: Das Leben ist das höchste Geschenk Gottes - vor allem irdischen Vermögen. Es hat deshalb den unbedingten Vorrang.

Moria – was nun?

Nun wird das vermutlich Sebastian Kurz nicht erweichen. Aber es gibt dennoch einige Fragen zu klären, nun, da Hilfe nur „vor Ort“ möglich ist, um 2015 „nicht zu wiederholen“. Das betrifft vor allem das Ziel der Regierung, die „gesamteuropäische Lösung“: Wenn die seit Jahr und Tag bekannten Zustände in den griechischen Lagern von den EU-Regierungen toleriert werden, warum sollte man annehmen, dass es je eine gemeinsame europäische Politik in diesem Feld geben wird? Wer würde denn Verbesserungen für die Betroffenen zustimmen, wenn die sanitären, sozialen und psychischen Missstände Teil des Systems der Abschreckung sein sollen.

Eine Verbesserung des Systems würde doch gleichbedeutend mit der Leerung von Lagern wie Moria sein. Und würde das nicht auch den befürchteten Pull­-Effekt auslösen? Wer dies also heute befürchtet, muss es dann noch mehr befürchten. Die Lager werden also weiter bestehen und immer wieder brennen, egal ob dort österreichische Zelte stehen oder der österreichische Innenminster Decken vorbeibringt. Nur gibt es selbst in der stets auf Realismus pochenden Regierung niemanden, der diese Wahrheit jenen zumutet, die sich angesichts Morias mit der Illusion vom auch so guten Spender beruhigen wollen.

Navigator

Liebe Leserin, lieber Leser,

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung