Gewissensfrage Moria

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Er könne die Aufnahme von Geflüchteten aus Moria nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, erklärte Sebastian Kurz. Was soll man davon halten? Ein Gastkommentar von Maria Katharina Moser.

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Er könne die Aufnahme von Geflüchteten aus Moria nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, erklärte Sebastian Kurz. Was soll man davon halten? Ein Gastkommentar von Maria Katharina Moser.

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Der Bundeskanzler hat die Weigerung, Menschen aus Moria aufzunehmen, zur Gewissensfrage erklärt. Er könne eine Aufnahme nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, meinte Sebastian Kurz in einem Video, das über Social Media verbreitet wurde – wohl in Reaktion auf viele Stimmen, die seine Politik als menschliche Kälte und als unvereinbar mit einer christlichen Haltung kritisieren.

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Das Gewissen ist eine ernste Sache. Es ist die moralische Instanz im Menschen. Augustinus nennt es „Stimme Gottes in uns“, Immanuel Kant „inneren Gerichtshof“. Martin Luther hat 1521 vor dem Reichstag in Worms erklärt, er könne seine Lehre nicht widerrufen, „weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun“. Für Dietrich Bonhoeffer kam die Missachtung des Gewissensrufs gar einer „Zerstörung des eigenen Seins“ gleich. Wer sich also auf sein Gewissen beruft, gibt zu verstehen: Ich äußere mich vom Standpunkt der Moral aus – und nicht des politischen oder des Eigeninteresses. Ich kann nicht anders, als meiner moralischen Überzeugung zu folgen – auch und gerade dann, wenn sie eine andere ist als die der Autorität oder Mehrheit. Was wir im Gewissen erkennen, nimmt uns in die Pflicht. Unbedingt. Einer erklärten Gewissensentscheidung eignet Unumstößlichkeit. Zu Recht, sagen theologische Ethik und Moralphilosophie. Aber sie fragen auch, wie verlässlich das Gewissen ist – und sie zeigen, dass es irren kann und zudem gebildet werden muss.

Das irrende Gewissen

Das Gewissen kann irren, weil für die moralische Beurteilung einer Situation auch Sachwissen erforderlich ist. Thomas von Aquin spricht vom konkreten Gewissensspruch als con-scientia (wörtlich Mit-Wissen) und unterscheidet ihn von der grundlegenden Gewissensanlage (synderesis). Während diese Fähig­keit, Gutes anstreben und Böses meiden zu wollen, Leben schützen und Lebenszerstörung verhindern zu wollen, irrtumsfrei ist, ist die konkrete Gewissensentscheidung irrtumsanfällig. Denn das Sachwissen, auf dem sie basiert, kann unzureichend oder falsch sein.

Leben und Unversehrtheit der Menschen in den Hotspots werden geopfert als Teil einer asylpolitischen Strategie.

So mag die Entscheidung, keine Menschen aus Moria aufzunehmen, eine Gewissensentscheidung sein. Allein, sie ruht auf mangelhafter Sachlichkeit. Die Argumentationsfigur des Kanzlers: Wenn wir Menschen von den griechischen Inseln aufnehmen, dann motiviere das andere, ebenfalls aufzubrechen. Sie würden sich in die Hände von Schleppern begeben, deren Geschäft blühe – und wir riskierten, dass sie unterwegs im Mittelmeer ertrinken. Obwohl sie dem Hausverstand so eingängig erscheint, fehlt der These vom Pull-Faktor jegliche empirische Grundlage. Darauf weist die Migrationsforschung seit Langem hin. Was für Bio-, Medizin- oder Wirtschaftsethik gilt, sollte auch in dieser Frage gelten: Ethische Argumentationsgänge müssen vor der einschlägigen Forschung bestehen können. Im Übrigen setzen sich Menschen der lebensgefährlichen Fahrt übers Mittelmeer aus, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Wer dem Schlepperwesen die Geschäftsgrundlage entziehen will, muss reguläre Fluchtwege (zum Beispiel humanitäre Visa und Korridore, Resettlement) schaffen.

Auch Kurzens zweite Begründung seines ­Gewissensurteils steht sachlich auf tönernen Füßen: 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Doch ist die aktuelle Situation eine ganz andere als damals. Erstens kann die Aufnahme jetzt kontrolliert und geordnet passieren, Integrationsmaßnahmen können von Anfang an mitgeplant werden. Zweitens ist die Katastrophe von Moria hausgemacht, die EU hat das Leid der Menschen dort selbst verursacht. Moria ist einer von fünf Hotspots, die 2015/16 auf griechischen Inseln eingerichtet wurden, um in der EU ankommende Asylsuchende zu registrieren, Zulassungsverfahren durchzuführen und die Zugelassenen rasch aufzuteilen auf die EU-Mitgliedsstaaten, wo die Asylverfahren durchgeführt werden sollten. Das griechische Asylsystem war damals schon längst zusammengebrochen, die griechischen Behörden überfordert, der politische Wille der europäi­schen Regierungen zu einer fairen Verteilung schwand rasch. So wurden aus einigen Tagen in einem Übergangslager Monate und Jahre. Aus einem Aufnahmezentrum, ausgelegt für 3000 Menschen, wurde ein Elendsquartier für knapp 20.000. Erfahrene Katastrophenhelfer sagen, menschenunwürdige Zustände wie in den EU-Hotspots hätten sie in keinem anderen Flüchtlingslager der Welt gesehen.

Bildung des Gewissens

Gewissensentscheidungen treffen wir weder im luftleeren Raum noch einfach aus uns selbst heraus. Luther beruft sich vor dem Reichstag auf sein Gewissen, das gebunden ist an das Wort Gottes. Für Kant ist das Gewissen der praktischen Vernunft verpflichtet, die sich ihrerseits auszurichten hat am Imperativ, Menschen niemals bloß als Mittel zu gebrauchen. Bonhoeffer sieht das natürliche Gewissen in der Gefahr der Selbstrechtfertigung und das durch Christus befreite Gewissen „weit geöffnet für den Nächsten und seine konkrete Not“. Kurzum, das Gewissen braucht Orientierungspunkte und will gebildet werden.

Lange Reflexionen über das christliche Gebot der Nächstenliebe als Maßstab für die Gewissensbildung, über Gesinnung und Verantwortung, Menschenrechte und moralische Gefühle ließen sich hier anschließen. So wichtig diese ethischen Grundsatzfragen sind, sie kommen nicht daran vorbei, den politischen Kern der Gewissensentscheidung, keine Menschen aus Moria aufzunehmen, herauszuschälen: Abschreckung. Aufnahme würde anziehen, also braucht es Zustände, die abschrecken. Elend und Leid von Menschen werden als Mittel zum Zweck bewusst und billigend in Kauf genommen. Das Leben und die körperliche und geistige Unversehrtheit der Menschen in den Hotspots, die ers­ten beiden Schutzgüter, welche die EU-Grundrechtecharta nennt, werden geopfert als Teil einer asylpolitischen Strategie. Diese Strategie gilt es der Gewissensprüfung zu unterziehen.

Die Autorin ist Direktorin der Diakonie Österreich und evangelische Pfarrerin.

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