Polarisierung um Notre-Dame

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GASTKOMMENTAR. In den Debatten über den Wiederaufbau nach dem Brand der Pariser Kathedrale steckt viel gesellschaftlicher Sprengstoff. Signale der Entschärfung täten in dem ohnedies gespaltenen Land dringend Not.

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GASTKOMMENTAR. In den Debatten über den Wiederaufbau nach dem Brand der Pariser Kathedrale steckt viel gesellschaftlicher Sprengstoff. Signale der Entschärfung täten in dem ohnedies gespaltenen Land dringend Not.

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Der Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame und die Reaktionen darauf haben in kürzester Zeit einen Streit um Moral, Identität und Zugehörigkeit zutage gefördert, der schon längst in Europa und anderen Teilen der Welt ausgefochten wird. Noch während des Brands hat sich die Bevölkerung nicht nur in Frankreich, sondern darüber hinaus in zwei Gruppen geteilt: jene, die entsetzt und traurig reagierten und jene, die gleichgültig oder gar schadenfroh waren.

Nach dem Brand hat sich diese Kluft verschärft, als sich die französische Regierung und einige sehr wohlhabende Einzelpersonen öffentlich bestürzt zeigten und große finanzielle Unterstützung für die Renovierungsarbeiten zusagten. Die Zusagen wurden umgehend von einigen als Heuchelei interpretiert: Die Reichen würden sich sofort um ein zu renovierendes Bauwerk kümmern, aber das Schicksal von Flüchtlingen oder Menschen in Kriegsgebieten sowie Armen im eigenen Land würde sie kalt lassen. Umgekehrt wurden jenen, die sich über den Brand der Kathedrale nicht traurig zeigten, Patriotismus und kulturelles Feingefühl abgesprochen. In vielen Kommentaren hieß es sinngemäß oder gar wörtlich, dass der neidische, unkultivierte Pöbel nun auf die Barrikaden steige. Viele ärgerten sich darüber, dass die eine Katastrophe mit einer anderen aufgerechnet wurde und beklagten die moralische Keule, die sie geschwungen sahen. Die Verhärtung der Fronten spiegelte rasch wider, was wir in den letzten Monaten und Jahren bereits kennengelernt haben: eine Polarisierung zwischen Mili­eus und Meinungen, die sich nicht so leicht entkrampfen lässt.

Wem gehört ein Nationalsymbol?

Dass ein solcher Brand politisch genutzt, anderen politischen Ereignissen und Entwicklungen gegenübergestellt und moralisch verhandelt wird, ist historisch betrachtet keine Neuigkeit. Man sollte sich darüber umso weniger wundern, als es um ein Nationalsymbol und um Geld gleichzeitig geht. Wie sollte das nicht zum Politikum werden, an dem sich alle gesellschaftlichen Gruppen abarbeiten?
Ein Nationalsymbol hat die Funktion, den nationalen Zusammenhalt materiell darzustellen, eine Klammer der nationalen Identität zu bilden. Nun ist Notre-Dame offenbar und unbestritten ein solches Symbol für Frankreich. Die große Mehrheit der in Frankreich lebenden Menschen würde das wohl unterschreiben. Sie fühlen sich durch dieses Symbol einer Gruppe verbunden und zugehörig, in diesem Fall dem französischen Staat und der christlichen Glaubensgemeinschaft. Das haben jene explizit unterstrichen, die umgehend Millionen zugesagt haben. Ihre Unterstützung zeigt: Hier geht es um „unser Symbol“. Sie sagen damit: „Notre-Dame gehört zur Familie und wir lassen ein Familienmitglied nicht hängen.“ Aber das gilt eben nicht für alle. Es gibt Menschen, die zwar in Frank­reich leben, denen dieses Symbol aber nichts bedeutet. Die Gründe dafür können unterschiedlich sein: Vielleicht sind sie erst seit Kurzem zugewandert und wissen nichts über die Historie des Bauwerks. Vielleicht leben sie schon lange in Frankreich, aber am Rande der Gesellschaft und ohne die Perspektive, dort jemals als zugehörig erachtet zu werden. Vielleicht stehen sie dem französischen Staat abgeneigt gegenüber, weil er ihnen keine oder zu wenige Chancen bietet. Vielleicht ist Notre-Dame als Symbol des Christentums für manche gerade kein Identitätsstifter, weil sie einer anderen Religion angehören oder weil sie Religion überhaupt ablehnen. Es scheint zumindest nachvollziehbar, dass diese Menschen die Trauer über den Brand nicht im gleichen Ausmaß teilen können. Die kollektive Trauer der anderen führt ihnen umso mehr vor Augen, dass sie nicht dazugehören. Sie können den Eindruck gewinnen, dass ihr Schicksal in Frankreich dem französischen Staat und der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung weit weniger wichtig ist als das Schicksal von Notre-Dame. Sie können den Eindruck gewinnen: „Ich gehöre nicht zu dieser Familie dazu. Mich wird keiner renovieren, wenn ich verbrenne.“

Worüber geweint wird

Auch viele religiöse Menschen haben den Eindruck, dass dem Geringsten der Brüder und Schwestern hier weniger Bedeutung beigemessen wird als einem Bauwerk. Papst Franziskus hat im Jahr 2013 auf Lampedusa gefragt: „Wer hat ge­weint um diese Menschen, die im Boot waren?“ In Anspielung auf zwei Hauptwerke von Victor Hugo hieß es, dass Notre-Dame mehr Aufmerksamkeit zuteil werde als den Elenden („Les Misérables“). Anders formuliert: Wer hat so um die Elenden getrauert wie um Notre-Dame? Diese Frage klingt für viele Ohren ungerecht. Was einen betrifft und zu Tränen rührt, ist nicht steuerbar und kann viele Hintergründe haben. Wer bei den Bildern der brennenden Kirche traurig war, war es wahrscheinlich auch bei den Bildern der gestrandeten Kinder, der überfüllten Flüchtlingsboote oder der anderen Leiden der letzten Jahre. Dem Vergleich wird daher entgegen gehalten, dass man diese Dinge nicht aufrechnen kann. Das wäre moralisch ungerechtfertigt.

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