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Grenzlinien

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Der Spätherbst kündigt in mannigfachen Vorzeichen die bald beginnende Wahlbewegung an; es trennt uns kein Jahr mehr von den Neuwahlen für das Parlament. Zum Unterschied von den ersten Wahlen in der zweiten Republik, in denen das Bemühen um eine Kräftesammlung für den Wiederaufbau die Parteigegensätze dämpfte und sogar zurücktreten ließ, werden diesmal grundsätzliche Probleme, namentlich im Zusammenhang mit den Fragen um die Zukunft der Schule und Jugenderziehung, auf der Tagesordnung stehen. Es wird hier, wenn unser öffentliches Leben nicht schweren Schaden leiden soll, unzweideutig klar sein müssen, daß Postulate, die dem christlichen Gewissen und weltanschaulicher Überzeugung entstammen, und nicht im Namen eines Sonderrechtes, sondern allgemeingültigen staatsbürgerlichen Rechtes erhoben werden, einer höheren Kategorie arigehören als die ungelösten Differentialgleichungen der Parteipolitik. Wem es Ernst ist um die Sache, um den bürgerlichen Frieden, der wird sich bemühen, Angelegenheiten, deren Behandlung Achtung der weltanschaulichen und religiösen Überzeugung verlangt, aus demagogischen Gefechten herauszuhalten.

Eine Läuterung des öffentlichen Lebens unserer Nachkriegszeit bedeutet es, daß es gelungen ist, zwischen Kirche und Staat, zwischen Religion und Politik eine deutliche Grenzlinie zu ziehen. Die Kirche hat, um diese Trennung weit sichtbar zu machen, nicht nur mit strengen Vorschriften die Abstinenz des Priesters von aktiver Teilnahme am politischen Parteileben bestimmt, sondern auch für den Erweis ihrer Stellung, wie gerechterweise wird zugegeben werden müssen, zugemutete einseitige finanzielle Opfer geduldet, die heute der letzte Kaplan mitzutragen hat. Nur zögernd haben frühere Kritiker und Widersacher diese von Seite der Kirche beinahe demonstrativ vollzogenen Veränderungen zur Kenntnis genommen. Aufmerksamer beobachtete sie das Volk auch in jenen Kreisen, die ihr bis dahin kalt, mißtrauisch, mit Vorurteilen beschwert, gegenübergestanden waren. Diese scharf unterstrichene Distanzierung der Kirche von der Politik hat noch nicht alle geistigen Sperren zu beseitigen vermocht, sie hat erst allgemeine geistig-psychologische Voraussetzungen gebessert, erst Randbezirke entfremdeter Volksschichten ihr wieder zugänglich gemacht, aber es ist doch erreicht worden, daß blindwütige Kulturkämpferei in der sozialistischen Presse und Propaganda mindestens nicht mehr den vorherrschenden Stil bestimmt. Das ist ein Fortschritt zur inneren Befriedung, den jeder Freund eines gesunden öffentlichen Lebens und einer erstarkenden Demokratie schätzen und bewahren helfen wird, vor allem der Katholik, der die geistigen Barrieren abgetragen sehen möchte, die bisher vielen Hunderttausenden den Weg zu ihrer eigenen Kirche und zu einer wohlverstandenen christlichen Gemeinschaft erschwerten. Der seit der Wiederherstellung der christlichen Freiheit erreichte Wandel wird in dieser Wahlbewegung seine Bewährung und noch stärkere Befestigung zu erhalten haben. Auch in den Wahlkämpfen muß sichtbar bleiben, daß in ihnen nicht die Kirche Partner ist, wohl aber selbstverständlich der Mensch der christlichen Weltanschauung, der Staatsbürger, der in seiner Anteilnahme am öffentlichen Leben nicht nur sein Recht sieht, sondern eine sittliche Verpflichtung: die persönliche gewissenhafte Sinnerfüllung der Demokratie. DieHaltungdeskatho- lischen Wählers wird überall dort eindeutig bestimmt sein, wo sie durch die kirchliche Lehre und die christliche Moral orientiert und grundsätzlich gebunden ist, und sie wird frei sein in der rein weltlichen Sphäre des staatsbürgerlichen Lebens. Es ist zum Beispiel klar, daß die Wahrung des Elternrechtes in bezug auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder einen prinzipiellen Anspruch darstellt, nach dessen Achtung oder Nichtachtung jeder unterrichtete christliche Wähler seinen Entscheid zwischen den Parteien auszurichten hat, und es ist zum Beispiel unrichtig, etwa die gewiß wünschenswerte Reform des Wahlrechtes der starren Liste, eine rein politische Angelegenheit, als eine „katholische Grundforderung“, so wie es irgendwo geschehen ist, zu bezeichnen. Solche Fragen der politischen Machtverteilung dürfen nicht in den kirchlichen Raum hineingetragen, sondern ausschließlich auf dem Boden der Politik, zwischen den dazu berufenen Parteien, entschieden werden. So gilt es in allen bewährten Demokratien.

Es ist zu wünschen, daß diese Grenzlinien überall richtig gesehen werden, sowohl bei den Parteien wie bei ihren Kritikern; ihre Beachtung wir.d zu der Würde notwendiger Auseinandersetzungen beitragen. Gerade deshalb, weil Österreich noch ein besetzter Staat ist, und solange nach Kriegsende seine Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht unseres Volkes noch immer bedrohte Werte darstellen, kommt viel, vielleicht alles darauf an, daß die kommende Wahlbewegung die unerschütterliche Festigkeit und gesunde innere Klarheit unserer Demokratie beweist. Solange unser Volk unzweideutig seinen Freiheitswillen bekundet und die große Staatsparteien sich als die ihrer Aufgabe bewußten Träger des Unabhängigkeitswillens bewähren, kann unser Land, ohne daß wir es hindern können, eine Zeit- lang bedrückt, beraubt, gedemütigt, aber es kann auf die Dauer nicht überwältigt werden. Deshalb stehen diese Wahlen wie ein Schwert über uns, ein Richtschwert für uns und unser Recht.

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