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Christentum ist Abschied von Theokratie

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Das Konzil sagt, der Mensch sei „auf Erden das einzige Geschöpf, das Gott um seiner selbst willen gewollt hat” (Gaudium et Spes/GS 24,3). Die menschliche Person hat eine ewige, über dieses Leben hinausreichende Zielbestimmung und eine in sich selbst gründende, in allen politischen und gesetzlichen Handlungen stets vorauszusetzende und zu achtende Würde.

Die katholische Soziallehre bezeichnet dies als das „Personprinzip”, wenn sie lehrt, „Grund, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist die menschliche Person und muß es sein” (GS 25,1).

Eine erste und grundlegende Konsequenz aus dieser Überzeugung ist es, daß die menschliche Person nie völlig im Staat aufgehen darf. Die menschliche Person transzendiert alle staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Das Christentum ist überzeugt davon, daß der Mensch Bürger zweier

Welten ist, der irdischen Gesellschaft und der künftigen himmlischen Gemeinschaft, und daß die irdische Gesellschaft keinen Totalanspruch auf das Ganze des Menschen erheben darf. Darin liegt zweifellos ein Konfliktstoff, der sich bereits in der Antike gezeigt hat, als die Christen ihre Identität nicht einfach aus der Zugehörigkeit zum irdischen (Kaiser-)Beich bezogen, sondern aus ihrer Zugehörigkeit zum Kyrios Christus.

In den neuzeitlichen totalitären Systemen wurde immer wieder versucht, den Menschen ganz in die Basse, die Klasse, die Nation einzubinden und ihm seine Transzendenz streitig zu machen. Das Christentum hält die Gesellschaft offen, es verhindert, daß sie sich über ihm schließt und zum totalitären, immanenten System wird.

Die für die Demokratie notwendige „staatsfreie Zone”, das heißt jener Bereich, der nicht durch staatliche Zwangsgesetze, sondern durch die freie und vorausgesetzte Übereinkunft aller „recht und billig Denkenden”

gebildet wird, ist meines Erachtens eine Auswirkung jener jüdisch-christlichen Entdeckung,, daß der Mensch den Staat transzendiert.

Religion hat daher die für das Wohl der Demokratie unerläßliche Funktion, jene staatstranszendierende Offenheit des Menschen zu ermöglichen und zu bezeugen, die die Person mehr sein läßt als nur einen Zweck für das Ganze des Gemeinwesens. Einfacher gesagt: Damit Demokratie gelingen kann, bedarf es des Raumes der geistigen Freiheit, in der der Mensch sich zuerst als ein um seiner selbst willen von Gott gewolltes und auf ein absolutes Ziel ausgerichtetes Geschöpf erfährt. Da aber der Mensch ein gemeinschaftliches Wesen ist, ist es unerläßlich für das Gelingen einer freien Gesellschaft, daß Religion auch gemeinschaftlich gelebt und verwirklicht wird. Religion bedarf daher auch der gemeinschaftlichen, ja der gesellschaftlichen Verfassung.

Sie kann und darf nicht den Staat ersetzen, der Staat darf sie aber auch

nicht einfach zu einem ihm untergeordneten Teilbereich machen wollen. Das Christentum bedeutet (wenn auch geschichtlich nicht immer so klar gesehen) den Abschied von der Theokratie. Das Wort Jesu „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist” ist der Schlußstrich unter den theokratischen Anspruch der Religion. Damit ist sie freilich nicht zur Privatsache reduziert, sie ist nicht nur Sache der Sakristei.

In unserem Land steht meines Erachtens eine Debatte über die gesellschaftliche Rolle der Kirche und der Religionsgemeinschaften an. Dabei geht es nicht primär um die staatskir-chenrechtliche Stellung, sondern grundlegender um die Frage, ob Demokratie auf Dauer gelingen kann ohne den transzendenzoffenen Freiraum der Religion.

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