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Kindheit und sozialesVerhalten

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Es ist dringend geboten die Ziele unserer Leistungsgesellschaft auf jene Grundbedürfnisse hin abzustimmen, die sich aus der Evolution ergeben.

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Es ist dringend geboten die Ziele unserer Leistungsgesellschaft auf jene Grundbedürfnisse hin abzustimmen, die sich aus der Evolution ergeben.

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Der „Kurier“ berichtete am 22. Mai über Ferdinand Lacinas Budgetsorgen und darüber, daß die OECD Österreich wegen des explodierenden Budgets scharf kritisierte. „Besonders harsche Kritik übt der Bericht am Familienlastenausgleich, der trotz der tendenziell sinkenden Kinderzahl pleite sei, weil immer mehr neue und höhere Leistungen erfunden werden.“

Staatsschulden und alles, was man unter dem Begriff „Budgetkonsolidierung“ subsummiert, stehen im Mittelpunkt öffentlichen Interesses, ebenso wie gerade in den letzten Wochen Forderungen nach flächendeckenden Einrichtungen zur möglichst früh einsetzenden Fremdbetreuung von Kindern. Mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit ordnen wir uns den sogenannten Sachzwängen unter und interpretieren Lebensqualität mehr und mehr unter der Dominanz materieller Kriterien; kein Wunder, daß zunehmend mehr Menschen ihr „Heil“ in mehr oder weniger dubiosen „Philosophien“ suchen und „esoterische“ Schriften Rekordauflagen erzielen.

Es stimmt schon, noch nie ist es - in unserem Kulturkreis - so vielen Menschen so gut gegangen wie heute; es stimmt auch, daß unser aller Wohlergehen vom Konjunkturge- schehen und der Macht der Wirtschaft abhängig ist. Richtig ist aber auch, daß wir kraft der Leistungs fähigkeit unseres Großhirns mehr und mehr Entscheidungen treffen, die uns von unserer evolutionär-biologischen Bedingtheit abkoppeln. Nachdenklich macht den Biologen die Selbstverständlichkeit, mit der wir gesellschaftspolitische Konzepte erstellen, ohne auf unsere stammes- geschichtliche Herkunft und deren Bedingungen Rücksicht zu nehmen.

In der Evolution der Säuger können wir unter anderem folgenden, bemerkenswerten Trend beschreiben: In dem Maße, in dem die Funktionalität gesellschaftlicher Interaktionen an Komplexität zunimmt, wird die Phase der nachgeburtlichen Abhängigkeit von der Qualität der sozialen Geborgenheit und elterlichen (Bezugspersonen sagt man heute) Zuwendung immer ausgedehnter. Bei der Geburt ist das Gehirn des Menschenkindes in einem extrem unreifen Zustand. Das Großhirn, das neuroanatomische Substrat der Intelligenz- und Persönlichkeitsentwicklung, muß sich erst nachgeburtlich voll entwickeln. Zur Zeit der Geburt hat das Neugeborene erst rund 23 Prozent des endgültigen Hirngewichtes erreicht; mit zehn Jahren erst erreicht es etwa 95 Prozent!

Diese Zunahme des Gehirngewichtes bezieht sich de facto ausschließlich auf jene Himstruktur, die als Großhirn bezeichnet wird; stam- mesgeschichtlich alte Hirnteile sind bei der Geburt bereits voll entwickelt. Erst nachgeburtlich wird die neurobiologisch-materielle Voraussetzung dafür geschaffen, daß der augenblickliche, egoistische Trieban spruch in ein vorausschauendes, planendes und sozial verantwortungsbewußtes Handeln umgesetzt wird. Ein italienischer Neurophysiologe hat dies einmal so ausgedrückt: Das Stirnhirn (jener relevante Teil des Großhirns) sitzt dem limbischen System auf wie ein Reiter auf einem Roß ohne Sattel - er kann jederzeit abgeworfen werden; wohl die meisten Menschen haben ja solche Zustände im Zustand höchster Erregung an sich selbst erlebt.

Stirnhimverletzungen, wie sie bei Soldaten in den furchtbaren Kriegen unseres Jahrhunderts so häufig auftraten, demonstrieren die Bedeutung dieser Großhimstrukturen. Bei zumeist relativ unverändertem Intellekt mußten die Männer nach Heilung der Verletzung entmündigt werden, da sie als Konsequenz dieser Verletzung jedes Gefühl für soziale Verantwortung und soziale Interaktion verloren hatten; Hubert Rohracher bezeichnete diese Menschen als „willenlose“ Triebbündel und Hugo Spatz nannte die dafür verantwortlichen Großhirnstrukturen das neuronale Substrat für Gewissen.

DIE ZUWENDUNG ENTSCHEIDET

In der nachgeburtlich so sensiblen neurobiologisch bestimmten Ent- wicklungs- und Prägephase werden die Weichen für die Qualität des späteren Lebens gestellt - die Weichen für das Individuum und die Weichen für die Gesellschaft. In welchem Ausmaß diese nachgeburtliche Entwicklung vom Milieu abhängig ist, in dem das Kind heranwächst, beschrieb unter anderem Nissen, 1976: „Zwischen der Entwicklung in einem reizarmen oder reizintensiven Milieu bestehen direkte Korrelationen zu der Dicke und dem Gewicht der Hirnrinde, der Größe der Nervenzellen und der Dichte der Hirnvaskularisation“. Mit „Reiz“ ist in diesem Zusammenhang aber ausschließlich das Ausmaß der Liebeszuwendung, des Körper- und Sprachkontaktes gemeint!

Das Training für das Gehirn liegt in der Zeit der langen nachgeburtlichen Periode des sozialen Lernens. In dieser Zeit sollten die Grundlagen für das spätere, von Vorausschau und von Verantwortungsbewußtsein getragene Sozialverhalten erfahren und gefestigt werden. Dieses evolutionsbiologische Faktum läßt sich auch dann nicht aus der Welt schaffen, wenn wegen der Einführung eines zusätzlichen Karenzjahres das Budget „explodieren“ sollte. Keine Wirtschaftsmacht der Welt wird an der Evolution, die über Jahrmillionen den Weg zum Homo sapiens geebnet hat, etwas verändern können. Charakteristisch für diese Evolution ist ein Trend, der in der aufsteigenden Säugerentwicklung zu erkennen ist und beim Menschen seinen Höhepunkt erreicht hat: die charakteristische Verlängerung von Kindheit und Jugend!

Diese Zeit ist dem sozialen Lernen, dem Erwerb verantwortungsbewußter sozialer Interaktionsstrategien vorbehalten - ein Handeln, das in jeder Generation neu erworben wer den muß. Dies ist aber daran gebunden, daß Kinder in der Sicherheit sozialer Geborgenheit heranwachsen und nicht dem Streß wechselnder Bezugspersonen und den Konflikten der Eltern hilflos ausgesetzt sind. Nur in einem solchen Beziehungssystem wird es möglich sein, all das zu realisieren, was in den Genen als Entwicklungspotential festgelegt ist.

Wenn in den frühen, sensiblen Entwicklungsperioden jene sozialen Lernprozesse, die die Grundlagen für das Sozialverhalten darstellen, nicht ausreichend gewährleistet sind, so können dann aus solchen Kindern Erwachsene werden, deren Erfahrungsdefizite sehr wohl zu Belastungen für die Gesellschaft werden können, um dies recht vorsichtig zu formulieren. Ausschließlich materiell, nur auf Wirtschaftswachstum hin orientierte ökonomische Strategien, ebenso wie steigende Scheidungsraten, Selbstverwirklichungstendenzen in beiden Geschlechtern und primär konsumorientierte Lebensführungskonzepte mögen zwar die Wirtschaft „ankurbeln“, führen jedoch zwangsläufig dazu, daß immer rqehr Kinder in ihrer nachgeburtlichen Entwicklung ungünstigen Umweltbedingungen ausgesetzt sind. Kinder jedoch, die in ihren sensiblen Entwicklungsphasen von emotionalen Entbehrungen und sozialen Erfahrungsentzügen geprägt wurden, werden später dann als Jugendliche und Erwachsene nur bedingt über jenes Instrumentarium an Sozialverhalten verfügen, dessen die Gesellschaft so dringend bedarf.

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