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Unterernährt bei Übergewicht

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Viele alte Menschen - besonders die alleinstehenden - kommen mit der Aufgabe, sich richtig zu ernähren, nicht mehr zurecht. Über Ursachen und Folgen berichtet der folgende Beitrag.

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Viele alte Menschen - besonders die alleinstehenden - kommen mit der Aufgabe, sich richtig zu ernähren, nicht mehr zurecht. Über Ursachen und Folgen berichtet der folgende Beitrag.

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Jausenähnliche Mahlzeiten führen auf die Dauer zu schwerer Fehl- und Mangelernährung, die mit kalorischer Uberernährung durchaus vereinbar ist. Das heißt, daß lebensnotwendige Stoffe in der Nahrung fehlen, daß aber Fette und Kohlehydrate so reichlich angeboten werden, daß bei beträchtlichem Ubergewicht zugleich die Folgen einer Mangelernährung auftreten können.

Ein Mangel an Eiweiß, an Vitaminen, an Spurenelementen und

Unterernährt bei Ubergewicht

Über die verwahrloste Ernährung vieler alter Menschen

Ballaststoffen führt zu vorzeitigem geistigen und körperlichen Abbau, zu Bewegungsarmut, Niedergeschlagenheit und Stuhlverstopfung. Angebotene Ernährungsberatung bleibt oft ohne Erfolg.

Die Nahrungsaufnahme ist die zweite große Funktion, die der Mensch nach der Atmung nach seiner Geburt aufnimmt. Hier werden schon die Weichen gestellt für sein späteres Eßverhal-ten. Frühgelerntes ist später nur schwer zu ändern.

Man nimmt an, daß die Anzahl der Fettzellen im Körper in den ersten Lebenswochen fixiert wird. Uberfütterung in dieser Zeit kann lebenslange Eßsucht zur Folge haben. Wenn man bedenkt, wie oft kleine Kinder mit Süßigkeiten belohnt und mit Essensentzug bestraft wurden, dann ist es klar, daß der angeborene Instinkt für „hungrig" und „satt" schon früh unterdrückt und ausgelöscht werden kann.

Wenn man ferner bedenkt, durch welche Hunger- und Armutsjahre die heute alten Menschen gegangen sind, dann wird deutlich, daß sie nach der Qualität der Nahrung nicht fragen gelernt haben, wichtig war nur, daß man etwas Eßbares ergatterte.

Hinzu kommen sehr konkrete Hindernisse, die einer gesunden

Lebensführung im Wege stehen. Die Armut vieler alter Menschen führt dazu, daß sie am Essen sparen, und Fette und Kohlehydrate sind eindeutig die billigsten Energielieferanten.

Eine schlecht ausgestattete Küche kann das Kochen sehr mühsam machen. Mühsam ist das Kochen auch bei körperlichen Behinderungen, wie schmerzhafte Gelenksveränderungen, Krampfadern oder Beingeschwüren, oder bei Sehbehinderungen.

Das Fehlen von Wasser in der Wohnung führt zu schlechter Hygiene, das Nachlassen von Geruchs- und Geschmackssinn wirkt in die gleiche Richtung.

Wenn auch die Sehkraft nachläßt, werden Schmutz und Schimmel nicht wahrgenommen, verdorbene Nahrung wird gegessen, denn Eßbares wegzuschmeißen, das galt und gilt als Todsünde. Wenn ein Eiskasten fehlt, werden angesäuerte Milch, ranzige Butter, vergorener Fruchtsaft oder fauliges Fleisch konsumiert.

Nur wenige alte Menschen kochen mit Freude. Alte Männer haben große Mühe mit dieser ungewohnten Arbeit. Von alten Frauen kann man hören: „Schon als kleines Mädchen mußte ich in der Küche helfen. Mein ganzes Leben lang mußte ich oft mit knappsten Mitteln kochen bis zur Erschöpfung - achtzig Jahre kochen, haben mich der Sache müde gemacht! Und noch eins kommt hinzu, ich habe immer für andere gekocht- für mich allein lohnt sich's nicht— da genügen die jausenähnlichen Mahlzeiten!"

Andere alte Menschen sind appetitlos und magern entsetzlich ab. Die Verdauungssäfte werden nicht mehr ausreichend produziert, das Essen schmeckt nicht und wird auch nicht vertragen, es kommt zu Durchfällen oder zu Stuhlverstopfung, die Lust am Essen wandelt sich zur Unlust.

Die Verdauung beginnt mit dem Kauen. Wenn die Zähne lückenhaft sind, oder die Zahnprothesen so schlecht sitzen, daß sie zum Essen abgenommen werden müssen (sogenannte Schubladenprothesen), dann ist es klar, daß hier nur noch leichte und breiige Kost bevorzugt wird.

Besonders nachteilig wirkt sich unzureichende Flüssigkeitsaufnahme aus. Wegen einer Schwäche der Blasenkontrolle trauen

sich viele nicht, in ausreichendem Maß zu trinken. Die Folge davon ist hochkonzentrierter Harn, der einen dauernden Harndrang durch Reizung der ableitenden Harnwege bewirkt. Mangelnde Flüssigkeitszufuhr führt auch zu steinharten Kotballen, weil eben zu wenig Wasser im Darm ist.

Das Einkaufen stellt ein besonderes Problem dar. Mit einem Gehstock oder mit Krücken wird das Gehen schon zum Problem. Das Stiegensteigen und Taschentragen erst recht. Wenn man am Gehsteig schon dauernd gerempelt wird, beim Uberqueren der Fahrbahn in Gefahr gerät und im Geschäft mit den langsamen Fingern die Ungeduld der anderen provoziert, so ist das einfach quälend.

Wenn Diätvorschriften gegeben werden, die womöglich noch mit komplizierten Rechenaufgaben verbunden sind, so wird die Kost oft extrem einseitig und geradezu lebensfeindlich.

Körperliche, seelische, geistige, finanzielle und soziale Faktoren begründen und fixieren die falschen Eß- und Trinkgewohnheiten. Eine wesentliche Hilfe die wir hier anbieten können, ist Essen auf Rädern.

Die Nachbarschaftshilfe wird in Fällen schwerer und bleibender Hilfsbedürftigkeit bald überfordert sein. Sich rechtzeitig zu aktivieren, könnte aber diesen kritischen Zeitpunkt wesentlich hinausschieben.

Die Heimhilfe ist sicherlich die idealste Hilfe. Sie ist Mensch, Gesprächspartner, Einkäuferin und Köchin. Sie kennt den alten Menschen in seiner komplexen Umgebung, seine Verwandten, Freunde und Nachbarn, die Wohnung, die Finanzen, die Wünsche und Bedürfnisse.

Sie kann uns am meisten über den alten Menschen sagen, wir täten gut daran, die Heimhelferinnen öfter bei Planung und Durchführung von Maßnahmen für alte Menschen zu Rate zu ziehen.

Auszug aus „Information" des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Altersforschung 4/ 84. Die Autorin ist Mitarbeiterin der Caritas Socialis.

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