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Die große Lust auf's Süße

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„Ich hätte gern zehn von den Erdbeeren und fünfzehn von den Pfirsichen..." - keine Bestellung beim Obsthändler sondern im Zuckerlgeschäft. Immer mehr Kinder und Jugendliche machen auf dem Schul- oder Heimweg einen Umweg ins süße Paradies.

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„Ich hätte gern zehn von den Erdbeeren und fünfzehn von den Pfirsichen..." - keine Bestellung beim Obsthändler sondern im Zuckerlgeschäft. Immer mehr Kinder und Jugendliche machen auf dem Schul- oder Heimweg einen Umweg ins süße Paradies.

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In vielen Haushalten ist es üblich, Süßigkeiten als „Jausenbrot mitzugeben", ergänzt Astrid Neumüller, Schulmedizinerin im Unterrichtsministerium. Viele Schul„buffets" werden vom Süßwarenladen um die Ecke betreut, manche Lehrer gehen mit ihren Schützlingen in den Pausen über die Straße, damit die lieben Kleinen zu ihren Gummischlangen, Colafla-scherln, Milchschnitten und so weiter kommen. Diese überreichen Angebote sind mit ein Grund, warum viele Kinder und Jugendliche ohne Frühstück aus dem Haus gehen, weil sie meinen, ihren Hunger mit etwas „Besserem" ohnehin später stillen zu können.

Die Konsequenzen der falschen Ernährung von Kindern und Jugendlichen geben schon lange Anlaß zur Sorge:

□ Je genauer die Untersuchungsmethoden, desto höher wird der Prozentsatz der Kinder, die bereits bei Schuleintritt an Karies leiden. Nach einer Aussendung der Ärztekammer haben 29,18 Prozent der Sechsjährigen Karies. Neumüller spricht von 80 Prozent bei den etwas Älteren.

□ Etwa jedes vierte bis fünfte Schulkind ist übergewichtig.

□ Ein Viertel der Zehn- bis Vierzehnjährigen leidet an Vitamin B1-Mangel, der zu Nervosität und Konzentrationsschwäche führt, 40 Prozent bekommen zuwenig Vitamin B6 und Kalzium, ein Drittel leidet unter Eisenmangel.

□ Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, erhöhtes Blutfett haben zugenommen, genauso wie

□ Erkrankungen des Bewegungsapparates und des Magen-Darm-Trakts.

Süßigkeiten sind „leere Energieträger", der Körper braucht für den Abbau Vitamine, die den Kindern dann fehlen. Der Gusto auf's Süße kann zum Teufelskreis werden: durch den hohen Energieverbrauch beim Abbau wird die Lust auf Süßes größer. Für manche Kinder und Jugendliche kann,so eine Unterrichtsstunde quälend lang werden, bis sie wieder an ihren „Stoff kommen. Süßigkeiten treiben den Blutzuckerspiegel innerhalb weniger Minuten hinauf. Für die Überbrückung der passiven Phase sind sie sehr angenehm, parallel produziert der Körper dann aber Insulin, um wieder auf normale Werte zu kommen.

Schon eine halbe Stunde nach dem Genuß von Zuckerprodukten kommt ein Leistungstief, das durch Müdigkeit, Kopfschmerzen, Kreislaufschwäche oder Schwindel gekennzeichnet sein kann - das läßt sich scheinbar wieder mit Süßigkeiten ausgleichen...

Es beginnt bei den Babys Die Lust auf's Süße wird Kindern von Anfang an mitgegeben: gesüßter Babyreis, Instant Kindertee (Zuckergehalt 95 Prozent), Limonaden und so weiter gehören zum Alltag. Universitäts-Dozent Rudolf Schoberber-ger vom Institut für Sozialmedizin:

„Wenn ein Baby schreit, muß es nicht unbedingt Hunger haben. Langeweile oder Angst werden so fort mit Nahrungsgabe erwidert, da die Eltern das Weinen falsch interpretieren." Kinder lernen Nahrung als „Bewältigungsstrategie" kennen. Wer Kindern „Gutes" tun will, schenkt ihnen Süßes - zum Geburtstag, zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit als Belohnung. Süßigkeiten erhalten eine positive Besetzung - „Wenn du brav bist...". Am ersten Schultag folgt dann die berühmte Schultüte, vollgestopft mit Süßigkeiten.

Eine Art Abhängigkeit Eine Konsequenz ist, daß „natürliche Süße kaum noch wahrgenommen wird", so Regine Bruno von der Umweltberatung in Wien. „Der Eigengeschmack der Produkte wird als fad empfunden." Das liegt aber auch daran, daß landwirtschaftliche Produkte wie Äpfel, Erdbeeren, aber auch Eier und so weiter durch die Massenproduktion viel von ihrer natürlichen Süße einbüßen. „Ein Apfel aus natürlichem Anbau schmeckt einfach anders", betont Monika Lieschke von der ARGE Umwelterziehung, die sich auch für eine praxisnahe Ernährungs-beratung an den Schulen und in der Erwachsenenbildung einsetzt. Kinder und Jugendliche versuchen das „Manko" durch Süßstoffe oder eben durch Ausweichen auf „wirklich" süße Produkte auszugleichen.

Der Titel dieserGeschichte entstand bei einem Brainstorming mit einer 2. AHS-Klasse. Süßigkeiten erzeugen, bei gedankenlosem in sich Hineinstopfen eine Art Abhängigkeit. Scho-berberger: „Wenn die Kinder selber Geld haben, gehen sie in das Zuckerlgeschäft, um sich etwas Gutes zu tun", dabei wird der Akt der „Nahrungs"-auf nähme zur Bewältigung von Angst, Streß oder Mißerfolgserlebnissen. „Kinder und Jugendliche holen sich ihre Belohnungenseiber"-jedenTag wird viel Taschengeld in Süßigkeiten gesteckt. Ein wesentliches Element ist das Gruppenverhalten - wer „in" sein will, geht und kauft mit. Wer gerade nicht genug Geld mithat, dem „helfen" einige Händler, in dem sie anschreiben lassen. Für manche Jugendliche wird der Druck des „in" sein so groß, daß sie auch vor Diebstahl nicht zurückschrecken. „Wer viele Süßigkeiten in der Schule mithat und sie großzügig verschenkt ist beliebt - es entsteht das Gefühl, daß sich Beliebtheit erkaufen läßt", ergänzt Swetlana T., AHS-Professorin.

Wenn elterliche Liebe fehlt Eine andere Motivation ins Zuk-kerlgeschäft zu pilgern ist der Versuch der Kompensation von elterlichem Liebesentzug. Regine Bruno vergleicht es mit dem „Konditoreiphänomen", „Süßigkeiten können zu einer Ersatzdroge werden, die scheinbar beruhigen und trösten". Der leichtfertige Umgang mit dieser Droge kann auch eine Komponente sein, die spätere Abhängigkeitsverhältnisse zu „wirklichem" Alkohol, zu Nikotin oder Drogen begünstigt. „Es ist ein Gewohnheitsmechanismus, bei dem man Alternativen verlernt" (Schober-berger).

Alle Gesprächspartner beklagen sich über den akuten Informationsmangel sowohl der Schüler als auch der Lehrer in Sachen Ernährung. Monika Lieschke verweist aber auch auf einige gelungene Aktionen in Richtung gesunder Ernährung, alternative Buffetangebote, die allerdings nicht „von oben" angeordnet, sondern von den Eltern, Lehrern und Schülern selbst kommen und wahrscheinlich gerade deswegen erfolgreich sind. Sie kritisiert das Fehlen von Möglichkeiten zum Gedankenaustausch zwischen den Schulen -vor allem private Kindergärten und Schulen haben mit natürlichen Produkten schon Erfahrungen gesammelt. Konsequenterweise müßte eine gesunde Schulnahrung auch zu Hause fortgesetzt werden - „Kinderkommen da in einen Konflikt", wenn es nach der Vollwertkost in der Schule zu Hause wieder Schnitzel und nachher eine Schokoladentorte als „Belohnung" gibt.

Ein Grund, warum Ratschläge und Erziehung zu gesunder Ernährung „nicht nur von der Schule ausgehen dürfen". Dort wird die Aufgabe der Gesundheitserziehung in der Schule wieder einmal den „paar engagierten" Lehrern überantwortet, ohne konkrete Änderungen in der Aus-und Fortbildung anzugehen oder entsprechende finanzielle Hilfe für Aus- und Fortbildung bereit zu stellen.

„Leider liegen die Gelder bei den Firmen, die zum Beispiel versuchen, die light Welle unter defn Gesund-heitsmäntelchen zu verkaufen und es ist sehr schwierig, diesen Werbemethoden etwas entgegenzusetzen" (Lieschke). Oft einzige Möglichkeit, skeptische Eltern davon zu überzeugen, daß gesundes Essen auch besser als „normales" sein kann, ist die Initiierung eines Infobuffets, bei dem Vorurteile schnell abgebaut werden können.

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