6566174-1949_48_07.jpg
Digital In Arbeit

Ein Stück Brot liegt in der Gosse

Werbung
Werbung
Werbung

Die alte Frau, die vor mir geht, bückt sich plötzlich. Es fällt ihr nicht leicht, und ich eile, ihr beizuspringen. Aber da hat sie schon aufgehoben, was ihr des Aufhebens wert erschien: eine dicke Schnitte frischen Brotes, davon nur einmal abgebissen worden war.

„Schaun Sie sich das an", sagt die alte Frau zu mir. „Soll man so etwas für möglich halten — vier Jahre nachher? Da ist doch eine Sünd!“

Ja, das ist es wohl.

Mein Vater war der Sohn eines Bauern. Der Bauer weiß am tiefsten von der Ehrfurcht vor dem Brot. Er sieht es wachsen. Er weiß, wa cs braucht an Müh’ und Arbeit, an Sonne und Regen und Wind und an Gottes Segen dazu. Wenn ein Bauer ein Stück Speck verschimmeln sieht oder einen Käse verderben, dann regt ihn das lange nicht so auf, wie wenn ein Stück Brot verkommt. Brot ist mehr. Vor dem Brot muß man andächtig sein. Deshalb zeichnet die Bäuerin ja auch just über das Brot das Zeichen des Kreuzes, ehe sie es anschneidet.

Ich weiß nicht, von wie vielen versunkenen Städten die Sage berichtet, aber in vielen dieser Sagen geht es darum: daß die Bewohner der Stadt das Brot nhht achteten und daß deshalb die Wogen über sie hinweggingen und sie von der Erdoberfläche vertilgten.

„Wissen Sie denn, ob Sie in Ihrem Leben immer genügend Brot zu essen haben werden?“, sagte mein Vater zu unserer jungen Hausgehilfin, als er sah, wie sie ein Stück Brot in den Kübel mit dem Spülicht warf. Das Mädchen schaute frech und verständnislos zu ihm auf. Sie war sicher, daß sie in ihrem ganzen Leben nicht auf solch ein Stückchen Brot anstehen würde.

In den Wochen, da wir alle hungerten und nachts vom Brote träumten, fiel es mir manchmal ein: ob die Thilde nun nicht doch manchmal an meines Vaters Worte denkt?

Das Brot war eine ungeheuere Kostbarkeit geworden; man hätte Gold gegeben für Brot, wenn man es hätte bekommen können in diesen Tagen. Die Front war gerade über uns hingegangen, und wir standen aller Mittel entblößt und hungrig, in einer sehr fremdartig anmutenden Welt.

Eines Abends kamen ein paar Frauen in unseren Hbf, sechs oder sieben, mit einem. Dutzend Kindern. Es waren Frauen aus Ostpreußen, die auf weiß Gott was für Umwegen nach Wien gekommen waren und nun nicht weiter wußten und nicht weiter konnten. Helft uns! Seht die Kinder! Erbarmt euch!

Wir halfen den Frauen, die schmutzstarrenden Kinder auszuziehen, brachten Bottiche mit warmem Wasser herbei, und jemand stellte in der Küche ein paar alte Kartoffeln zu für einen Eimer Suppe. Anderes hatten wir nicht.

Vor dem Tor stand einer von den wachehabenden Soldaten. Ein Russe. Wassili hieß er, Gott segne ihn. Er hatte die deutschen Frauen passieren lassen, obwohl sie ihm gesagt hatten, daß sie „Germanski" waren. Nun kam er plötzlich daherstolziert. Bewaffnet bis an die Zähne, wie er war. Und vor sich her trug er — einen riesigen Brotlaib. Weiß Gott, woher er ihn in der Geschwindigkeit genommen hatte.

„Da!“ sagte er und legte den Laib nachdrücklich neben den Bottich, in dem wir einen wunden Säugling zu säubern versuchten. „Da!“ Und sein helles Bubengesicht strahlte.

Ein Laib Brot lag verbindend zwischen dem hilflosen nackten Kind und dem vor Waffen starrenden Mann. Ausdruck einer Liebe und eines Erbarmens, das die von Menschen gezogenen Grenzen nicht anerkennen kann. In dieser Stunde glaubte ich an den Frieden.

„Weinen könnt ich, wenn ich dann so etwas seh“, sagte die alte Frau, und zupfte von dem Brot kleine Stückchen ab, die sie den Tauben zuwarf. „Daß uns der Herrgott nicht straft!“

Die Sinnesverwirrung dieses Mobs wie auch jedes Mobs zu früherer oder späterer Zeit wird mit wenigen Worten wunderbar skizziert: „Darum schrien die einen dies, die anderen das, denn die Versammlung war ein Wirrwarr, und der größere Teil wußte nicht, warum er zusammengekommen war." Zu diesem Zeitpunkt schickten die Juden, die befürchteten, daß der Aufruhr eine antisemitische Wendung nehmen könnte, einen Sprecher namens Alexander vor (war er jener Kupferschmied, der im Zweiten Brief an Timotheus erwähnt wird und Paulus „viel Kummer“ bereitete?); als jedoch die Schreier sahen, daß er ein Jude war, brüllten sie ihn nieder. Hier nun folgt eine lebendige Schilderung, die augenscheinlich das Werk eines Augenzeugen ist. „Alexander winkte mit der Hand und wollte vor dem Volke eine Verteidigungsrede halten.“ Wir können uns gut vorstellen, wie der Mann mit den Händen winkte, ohne daß es ihm gelang, sich im wilden Schreien des Pöbels durchzusetzen. So erstickte die Menge zwei Stunden lang jeden Versuch einer Rede mit dem monotonen Stadtgesang: „Groß ist Diana von Ephesus!", ebenso wie heutigentags Araber während politischer Demonstrationen einen tollen Gesang veranstalten, wobei sie immer wieder denselben Satz wiederholen. Diese Epheser wiederholten eine übliche Formel, die in Augenblicken religiöser oder politischer Erregung einer der vertrautesten Laute in Ephesus gewesen sein muß.

Plötzlich legte sich der Lärm. Der Stadtschreiber von Ephesus hat das Theater betreten. Er betritt die Tribüne. Er blickt um sich auf die vollgepferchten Reihen von Marmorsitzen, die sich vor ihm im Halbkreis erheben. Und er hält eine glänzende, typisch griechische Ansprache. Die kalte Logik seiner Worte fällt wie Eis auf die erhitzte Zuhörerschaft. Er teilt ihnen mit, daß die Oberhoheit der Artemis nicht in Frage gestellt ist; daß die Christen weder den Tempel geplündert, noch die Göttin gelästert hätten; daß es für solche Streitigkeiten die Gerichtshöfe gäbe und daß, wenn sie nicht in Frieden fortgingen, die römischen Behörden den Vorfall als einen Aufruhr ansehen möchten und die üblichen Strafen auferlegten. „Und als er so ge

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung