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Atmosphäre und Nervensystem

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Atmosphärische Zustände wie etwa Luftdruck, Luftelektrizität, Radioaktivität, Stickstoffgehalt der Luft beeinflussen Gesundheit und Nervensystem der Menschen in hohem Grade. Luftdruck und Luftfeuchtigkeit spielen auf den Nerven und lassen sie entsprechend reagieren. Dr. Clarence A. Mills, Professor für Experimentelle Medizin an der Universität von Cincinnati, hat ein ganzes Buch dem Thema gewidmet, „Climate makes the Man“. Er ist der Ansicht, daß die Beziehungen der Menschen zueinander friedlicher wären, wenn die Menschen sich der Einwirkungen von Luftdruck und Wetter auf ihre Nerven besser bewußt wären. Kleine Erregungen würden sie damit in Zusammenhang bringen und nicht zu großen Konflikten ausbauen.

„Wer Medizin studieren will, muß erst Meteorologie studieren.“ Das ist ein uraltes Wort von Hippokrates, dem griechischen Arzt, der um das Jahr 400 v. Chr. lebte und der als „Vater der Medizin“ bezeichnet wird. Heute achten wir mehr denn je auf den Zusammenhang von Wetterveränderungen und Krankheitserscheinungen. Enge Zusammenarbeit von Ärzten und Meteorologen in jüngster Zeit hat gezeigt, daß nicht bestimmte Einzelfaktoren des Wetters den menschlichen Kör per entscheidend beeinflussen, sondern daß Veränderungen im Befinden von der Gesamtheit der atmosphärischen Bedingungen abhängen. Diese „atmosphärischen Akkordschwankungen“ werden besonders fühlbar, wenn ein neuer Luftkörper die bisher über einem Ort lagernde Luftmasse ersetzt.

In einer Aprilnacht begannen sämtliche Säuglinge in einer Klinik in Lyon gleichzeitig zu schreien. Sie waren in verschiedenen Lebensaltern, von einem Monat bis zu 18 Monaten, und die meisten waren völlig gesund. Alle begannen um die gleiche Minute zu schreien — und trotz aller Beruhigungsversucbe schrien sie unaufhörlich bis zum nächsten Morgen um acht Uhr.

Die Ärzte gaben sich mit den üblichen Erklärungen nicht zufrieden. Sie überprüften auch die Wetterlage, an der den Laien nichts Besonderes aufgefallen war. Die meteorologischen Karten ließen erkennen, daß ein Schwall arktischer Luftmassen plötzlich abends nach Südfrankreich eingebrochen war und daß er gerade in der Gegend von Lyon einem anderen Luftschwall begegnete, der von der heißen Wüste Sahara nordwärts trieb. Dieses Zusammentreffen hatte vermutlich besondere Zustände in der Luftelektrizität oder in der allgemeinen Beschaffenheit der Atmosphäre bewirkt.

In Philadelphia wurden vor kurzem 250 Herzattacken auf ihren etwaigen Zusammenhang mit Wetterbedingungen von einer Kommission von Ärzten und Meteorologen geprüft. Es handelte sich um schwere Herzattacken, die durch einen Verschluß der Kranzgefäße, der Koronararterien, des Herzens herbeigeführt worden waren. Diesen lebenswichtigen Arterien obliegt die Aufgabe, dem Herzen selbst Blut zuzuführen und es zu ernähren. Es ergab sich, daß 60 Prozent dieser Koronarattacken sich dann ereigneten, wen plötzlich eine meteorologische Kaltfront auftrat, wenn also sowohl die Temperatur wiedas Barometer plötzlich sanken.

Dabei ist der Einfluß der Witterung offenbar weit tiefergreifen als starke körperliche Anstrengungen, die nicht selten für das Auftreten eines Herzanfalls verantwortlich gemacht werden. Dr. H. C. Teng und D. Howard E. Heyer in Dallas, Texas, berichteten, daß die meisten ihrer Patienten mit Herzattacken ihren Anfall bei plötzlichem Eintreten kalten (zuweilen auch warmen) Wetters erlitten, und zwar auch dann, wenn sie entweder schliefen oder sonst gerade der Ruhe pflegten, sich also körperlich nicht anstrengten. Offenbar verursachte die Anstrengung der Anpassung des Herzens an den Wettersturz die Herzattacke.

Heute achtet die Medizin auch regelmäßiger als früher auf den Zusammenhang von Wetter und Gesundheit. Es gibt schon eine große Zahl von Krankenhäusern, in denen wieder Wetterlisten geführt und in ähnlicher Weise betrachtet und bewertet werden wie Fiebertabellen. Aus Hamburg stammen ausführliche Berichte, wo Chirurgen und Meteorologen Tausende von Operationsfällen auf Beeinflussung durch das Wetter prüften. Insbesondere wurde auf den Wettereinfluß bei nachoperativen Blutungen und Embolien geachtet. Die Chirur gen, die vom Einfluß des Wetters auf den Operationsverlauf überzeugt sind, führen an Tagen, deren atmosphärische Einwirkung an Hand der Wetterkarten nicht günstig zu sein scheint, keine Operationen durch — außer Notoperationen, die sich nicht verschieben lassen.

Der Eingriff in den Organismus

Die Wirkungsweise auf den Organismus läßt sich am besten verstehen durch einen Vergleich, den Dr. Mills gab. Man nehme ein größeres Waschbecken und fülle es halb voll mit Wasser. Dann bringe man einen stark zusammengepreßten Schwamm in das Wasser und verringere allmählich den Druck, den man mit der Hand auf den Schwamm ausübt. Man sieht deutlich, wie der sich ausdehnende Schwamm das Wasser aus dem Becken in sich aufnimmt. Nun verstärkt man den Druck auf den Schwamm wieder, und man kann verfolgen, wie der zusammengepreßte Schwamm nunmehr das Wasser in das Becken zurückgehen läßt. Ähnlich verhalten sich die Organe des menschlichen Körpers, wenn beim Herannahen eines Sturms der Luftdruck fällt und beim Auftreten von schönem Wetter das Barometer wieder steigt.

Die Körpergewebe nehmen mehr Wasser auf, wenn ein Sturmzentrum mit niedrigem Barometerdruck sich nähert und der Umgebungsdruck fällt. Sie nehmen diese Flüssigkeit, dieses Wasser, aus den Verdauungsorganen auf. Bei manchen Patienten läßt sich beobachten, daß unter solcher Veränderung des Luftdruckes der Umfang des Beines im Lauf von 24 Stunden um 2,5 Zentimeter zunimmt. Und manche Personen nehmen in dieser Sturmzeit bis zu fünf Pfund Körpergewicht zu, weil sie nämlich infolge der Aufnahme der Flüssigkeit aus den Verdauungsorganen in das übrige Körpergewebe durstig werden und mehr trinken, als sie es sonst gewöhnt sind.

Das Anschwellen der Gewebe und Organe macht sich namentlich im Gehirn fühlbar, dessen freie Ausdehnung durch das knöcherne Gehäuse des Schädels behindert wird. Jede Schwellung erhöht den Druck im Gehirn und behindert etwas den Blutzufluß. Bei fallendem Luftdruck wird bei empfindlichen Personen das klare Denken behindert, und es entstehen Gefühle von Depression, Irritierung und Leerlauf. Das sind daher die Zeiten, in denen verstärkte Neigung zu Selbstmord auftritt, Neigung zu Streitsucht, und Personen, die Neigung zu Kopfschmerzen oder Ohnmächten haben, solche Anfälle erleben.

In Zeiten, da der Luftdruck fällt, entstehen Epidemien von Erkältungen, Hals- und Lungenentzündungen. Das hängt zum Teil mit den kalten Regenfällen und starken Winden zusammen, die mit dem fallenden Barometerstand einhergehen. Zum Teil aber ist daran die verringerte Vitalität der Schleimhäute in Rachen und Luftwegen schuld, wie sie mit der Gewebeanschwellung bei fallendem Barometerstand verbunden ist. Wenn dagegen ein Sturmzentrum vorübergezogen ist und das Barometer wieder ansteigt, dann wird die Gemüts- und Seelen-Atmosphäre ebenso geklärt wie die Wetterlage. Die überschüssige Flüssigkeit fließt aus dem Gehirn wieder ab, der Druck verringert sich, mehr Blut strömt ins Gehirn, die Denkarbeit fällt leichter und der ganze Körper findet - sich in allgemeiner Harmonie.

Am wichtigsten ist es, von der eigenen Wetterempfindlichkeit zu wissen. Wer weiß, daß seine Depressionen, seine Unlust, seine körperlichen Beschwerden von der Wetterlage abhängen, wird leichter darüber hinwegkommen. Er kann ja damit rechnen, daß in einiger Zeit diese unangenehmen Erscheinungen verschwunden sein werden. Goethe, dieser hervorragende Selbstbeobachter, sagte bereits zu Eckermann: „So arbeite ich bei höherem Barometerstand leichter als bei tiefem. Da ich nun dieses weiß, so suche ich bei tiefem Barometer durch größere Anstrengungen die nachteilige Einwirkung aufzuheben — und es gelingt mir!“

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