Wie männlich ist die Medizin?

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Die bestmögliche medizinische Versorgung ist nicht immer gegeben, denn noch zu oft wird zu wenig auf Unterschiede zwischen Männern und Frauen geachtet.

Frauen sind schmerzempfindlicher als Männer. Das ist kein Vorurteil, sondern Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen. So kam etwa eine Metastudie zum Schmerz nach Operationen genau zu dem Schluss, wie Adelheid Gabriel, Anästhesistin und Intensivmedizinerin an der Medizinischen Universität Wien, erklärt. Als Ursache dürfte Östrogenentzug eine Rolle spielen. Mit niedrigem Spiegel des weiblichen Sexualhormons steigt das Schmerzempfinden. „Es gibt Studien, die aufzeigen, dass, je länger eine Frau bereits in den Wechseljahren ist, umso größer ihre Schmerzempfindlichkeit“, sagt Gabriel, die noch weitere Beispiele nennt, wie Frauen den Schmerz anders wahrnehmen, etwa aufgrund vermehrter Depressionen.

Reden über den Schmerz

Noch ein weiterer Aspekt steht derzeit im Zentrum von Gabriels Interesse: Schmerz und Kommunikation. Frauen und Männer hätten unterschiedliche Muster, wie Schmerz kommuniziert und bewältigt würde: Frauen reden oft „diffus“, also unklarer über Art und Ausmaß des Schmerzes. Sie erklärt ihn im Kontext ihres Lebens, zudem ist die Frau laut Gabriel eine „Großmeisterin im Bewältigen von Schmerz, er gehört zu ihrem Leben“. Ganz anders beim Mann: Er ignoriert lange, dann ist er sehr auf den Schmerz zentriert. Schmerz gehört für den Mann nicht zum Leben, er fühlt den Körper erst, wenn er schmerzt.

Wird auf diese Aspekte in der Schmerzbehandlung bereits ausreichend Rücksicht genommen? „Überhaupt nicht, ich fange nun damit an, diese Dinge zusammenzustellen“, sagt Gabriel. Die Gender-Medizin sei in der Anästhesie und Schmerzbehandlung noch in den Kinderschuhen, ist sie überzeugt. In anderen Bereichen ist gendermedizinisches Wissen etablierter, etwa im Pioniergebiet der Kardiologie. Dass sich Frauen und Männer in den Risikofaktoren eines Herzinfarktes, den Symptomen, der Diagnostik und der Therapie unterscheiden, sei seit Längerem erforscht, sagt die Kardiologin an der Medizinischen Universität Wien, Jeanette Strametz-Juranek. Das hänge wohl damit zusammen, dass dem Herzinfarkt als lebensbedrohliches Ereignis eine größere Bedeutung beigemessen worden sei. Und auch in der Kardiologie steht am Anfang eine simple, aber umso bedeutendere Feststellung: Das weibliche Herz funktioniert anders. Frauenherzen haben zeitlebens aufgrund des Östrogens eine höhere Herzfrequenz als Männer, das Herz ist kleiner. Herzinfarkte treten bei Frauen später im Lebensalter auf, die Sterblichkeit ist aber höher. Doch auch das Pionierfach hatte seine Schwachstellen: Frauen wurden auch lange systematisch von kardiologischen Studien ausgeschlossen, wie Experten im Handbuch „Gender Medizin“ (siehe unten) erklären. Lange hielt sich auch der Irrglauben, dass Risikofaktoren bei Frauen gutartiger verliefen als bei Männer. Dabei gilt für beide Geschlechter, dass Erkrankungen des Herzkreislaufsystems die Todesursache Nummer eins darstellen.

Nicht nur in der Kardiologie hat man bereits dazugelernt. Die Medizin sei zwar noch „sehr männlich“, wie Strametz-Juranek betont: „Lange Zeit galt der klassische Mann als Normalbeispiel, das zieht sich immer noch durch weite Teile der Medizin.“ Die Vorsitzende der „Österreichischen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin“ sieht dennoch einiges in Bewegung. Die Gender-Medizin ist dabei, sich auch in Österreich immer mehr zu etablieren. Vertreterinnen der Disziplin mussten aber lange um Anerkennung werben. „Es wurde mit Feminismus und Frauen assoziiert“, erklärt Strametz-Juranek. Ein hartnäckiges Vorurteil, denn beide Geschlechter würden davon profitieren, wenn die Forschung und Praxis geschlechtsspezifische Aspekte beachtet, so die Kardiologin. Es gebe auch Bereiche, wo Männer etwa in Studien unterrepräsentiert oder in der Praxis benachteiligt sind: etwa im Bereich Osteoporose oder Depressionen.

Oder auch in der psychosozialen Betreuung, etwa nach einer Krebserkrankung. Hier würden Männer eher davor zurückscheuen, diese in Anspruch zu nehmen, als Frauen, erklärt die Radioonkologin Annemarie Schratter-Sehn. Doch auch die Onkologie sei ein Pionierbereich der Gender-Medizin, sagt die Leiterin der Abteilung für Strahlentherapie am Kaiser-Franz-Josef-Spital im SMZ-Süd. Schon in den letzten Jahrzehnten sei auf geschlechtsspezifische Unterschiede geachtet worden, im medizinischen wie auch im psychoonkologischen Bereich, also in der psychosozialen Begleitung der Krebspatienten und -patientinnen. Hier fällt eben auf, dass Frauen viel eher psychologische Hilfe in Anspruch nehmen als Männer.

Gender und Strahlentherapie

Schratter-Sehn nennt noch ein anschauliches Beispiel: Bei der Bestrahlung eines Tumors im Rektum sind Frauen und Männer unterschiedlich betroffen: Bei der Frau wären die Eierstöcke durch die Bestrahlung betroffen, während beim Mann die Hoden geschützt sind. Hier gebe es daher die Möglichkeit, die Eierstöcke vor der Bestrahlung im Bauchraum zu verschieben und damit zu schonen. Doch eine Sensibilität für Geschlechtsunterschiede gibt es laut Schratter-Sehn in allen Bereichen der Onkologie. „Ich habe in den letzten 20 bis 25 Jahren meiner intensiven Routinearbeit gesehen, wie unterschiedlich die Reaktionsmuster zwischen Männern und Frauen auf diese sehr eingreifenden Therapien sind. Und wie unterschiedlich die Bewältigungsmechanismen im rein physiologischen und psychischen Bereich sind“, sagt die Primaria. Sowohl in der Aufklärung der Patienten als auch in der Behandlung sei schon lange eine Sensibilität für die Geschlechter vorhanden, ist sie überzeugt. „Nur haben wir es nicht Gender-Medizin genannt.“

Dennoch fehle noch vielfach das Bewusstsein für unterschiedliche Bedürfnisse beider Geschlechter in der Medizin. Und es fehle noch an entsprechender Forschung, auch wenn sich hier einiges tue, resümiert Strametz-Juranek. Und an deren Finanzierung. Wohl ein nicht unwichtiger Gradmesser für die weitere Etablierung der Disziplin.

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