Männer-und Frauensachen: bitte differenziert beachten!

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In der Forschung im Labor und am Krankenbett war der Mann lange Zeit das Maß aller Dinge. Die Gender-Medizin will das ändern.

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In der Forschung im Labor und am Krankenbett war der Mann lange Zeit das Maß aller Dinge. Die Gender-Medizin will das ändern.

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Alexandra Kautzky-Willer hat Gefallen an einem früheren Hobby ihres Sohnes gefunden. Sie züchtet Reptilien, genauer gesagt Bartagamen, eine australische Echsenart. Diese Tiere haben eine seltsame Eigenschaft: Ihr Geschlecht wird nicht nur durch die Chromosomen im Erbgut, sondern auch durch die Außentemperatur bestimmt. Entwickeln sich ihre Eier unter Hitze, kann es vorkommen, dass genetische Männchen in der Natur zu anatomischen Weibchen werden, wie Forscher unlängst berichteten. Kautzky-Willers Hobby passt somit irgendwie zu ihrer Tätigkeit an der Medizinischen Universität Wien: Da geht es zwar nicht um Geschlechtsumwandlung, wohl aber um geschlechtsspezifische Unterschiede, die lange Zeit übersehen oder vernachlässigt wurden. Seit 2010 ist die Internistin Österreichs erste Professorin für Gender-Medizin. Als medizinische Gender-Expertin wurde sie heuer vom Klub der Bildungs-und Wissenschaftsjournalisten zur "Wissenschafterin des Jahres 2016" gekürt.

Dass Männer und Frauen ein unterschiedliches Krankheitsrisiko haben und auf Therapien mitunter ganz anders reagieren, ist erst Ende des 20. Jahrhunderts in den Fokus der Wissenschaft gerückt. 1996 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine erste Arbeitsgruppe zum Thema Gender-Medizin ins Leben gerufen. Und doch verweisen Experten weiterhin darauf, wie wenig die Kategorie "Geschlecht" in der medizinischen Forschung bislang berücksichtigt wird - und wie sehr dadurch die Frauengesundheit gefährdet ist. Denn über Jahrhunderte der Medizingeschichte war der Mann das Maß aller Dinge. Für die Entwicklung vieler Therapien wurden vorwiegend Männer in klinischen Studien untersucht. Selbst wenn Frauen in nennenswertem Ausmaß einbezogen wurden, unterblieb oft die Auswertung der Studiendaten nach dem Geschlecht. Bei den Tierstudien zeigt sich das gleiche Problem: Es wurden primär die männlichen Vertreter der Spezies untersucht.

Weibliches Schmerzempfinden

Heute weiß man zum Beispiel, dass Frauen Schmerzen anders empfinden und bewältigen, häufiger an Herz-Kreislauf-Krankheiten versterben und als Nicht-Raucherinnen im Vergleich zu Nicht-Rauchern ein dreifach höheres Lungenkrebsrisiko haben. Frauen werden häufiger depressiv und zeigen dann auch andere Symptome als Männer. Und gerade bei der Wirkung und Verträglichkeit von Medikamenten sind wichtige Unterschiede zu beachten: Gewisse Schlafmittel etwa werden im weiblichen Körper viel langsamer verstoffwechselt. Werden Frauen mit einer männerüblichen Dosis behandelt, sind Nebenwirkungen fast vorprogrammiert. Nicht zuletzt hängt das Krankheitsrisiko oft stark vom Lebensstil ab, und Männer und Frauen legen hier bei wichtigen Faktoren wie Rauchen, Ernährung und körperlicher Bewegung unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag. Gender-Medizin zielt somit darauf ab, all diese Unterschiede für die Diagnostik und Therapie zu berücksichtigen.

Seit rund zehn Jahren bemüht sich die Österreichische Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin durch Forschung und Fortbildung um Bewusstseinsarbeit. "Dass jede menschliche Zelle ein biologisches Geschlecht ('Sex') und jedes Individuum auch ein psychosoziales Geschlecht ('Gender') hat, ist in den Köpfen der meisten medizinischen Fachkräfte bereits angelangt", verkündet sie auf ihrer Webseite.

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