Das neue "Patchwork" Des selbst

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Die Frage "Wer bin ich?" erfolgt heute auf zunehmend brüchigem Terrain. Der extremste Ausdruck davon zeigt sich im Bereich der Geschlechtsidentität.

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Die Frage "Wer bin ich?" erfolgt heute auf zunehmend brüchigem Terrain. Der extremste Ausdruck davon zeigt sich im Bereich der Geschlechtsidentität.

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Simone Egger ist immer dann gefragt, wenn es darum geht, Erklärungen für den aktuellen Dirndlund Lederhosentrend zu finden. Was bringt Menschen in Österreich und Deutschland dazu, traditionelle Kleidungsstücke wiederzuentdecken, die mit regionalen Traditionen und altem Brauchtum assoziiert sind? Was bedeutet die Lust an der Trachtenkleidung im aktuellen Umfeld der Globalisierung? Egger ist Kulturwissenschaftlerin und forscht gern über die bayerische Volkskultur in der spätmodernen Welt. Die "Wies'ntracht" oder der Hut mit Gamsbart sind charakteristische Symbole bayerischer Identität. Aber auch das Prosten mit großen Biergläsern sowie der demonstrative Genuss von Weißwurst und Leberkäse gehören dazu.

Bier und Weißwurst

Solche kulturellen Symbole und Praktiken sind wie eine Bastion des Altvertrauten in einer zunehmend unübersichtlichen Welt. Sie geben Halt und Sicherheit - aber sie schaffen auch Möglichkeiten der Partizipation für jene, die nicht von Haus aus eingeschlossen sind, so Egger: "Wenn eine bayerische Institution ihre Offenheit unter Beweis stellen will, wirbt sie mit schwarzen Menschen in Trachtenkleidung."

Die wachsende gesellschaftliche Diversität der europäischen Metropolen zeigt sich besonders deutlich im Spitzensport: Im Weltklasseverein Bayern München etwa findet sich ein buntes Kicker-Ensemble, das die eroberten Titel in bayerischer Tracht zünftig zu feiern versteht. Auch der dunkelhäutige Legionär David Alaba ist ein Bayer und hat das Maß Bier triumphierend in den Münchner Himmel gestemmt. Simone Egger war eine der Teilnehmerinnen beim "Science Talk" in Wien, bei dem am 20. März die Bedeutung von Identitäten diskutiert wurde.

Neue Kategorien von "Gender"?

"Identitäten werden immer wieder neu verhandelt", erläuterte die Forscherin vom Institut für Kulturanalyse der Universität Klagenfurt. Das hat stets mit Inklusion und Exklusion zu tun. Aber diese Grenzziehungen erfolgen im Internet-Zeitalter immer häufiger. Sie sind zugleich fließender und durchlässiger, prekärer und brüchiger geworden. Die Liberalisierung in den westlichen Gesellschaften hat dazu geführt, dass Menschen sich von starren und oft lebenslangen Identitätszuschreibungen befreit haben. Das bedeutet umgekehrt, dass sie nun immer mehr gezwungen sind, ihr eigenes "Patchwork" der Identitäten zu gestalten. In der Parallelwelt des "World Wide Web" ist es überhaupt ein Leichtes, sich ein beliebiges Nutzerprofil zuzulegen und mit allen möglichen Identitäten zu experimentieren.

Wo aber liegen die Grenzen der freien Wahl? Kann heute jeder oder jede alles sein, wie der Titel des "Science Talks" provokant zur Diskussion stellte? Auch biologisch vorgegebene Merkmale und Identitäten stehen heute zur Disposition. Man muss nicht mehr Michael Jackson sein, um radikale Eingriffe zur ästhetisch-chirurgischen Körpergestaltung in Anspruch nehmen zu können. Selbst das Thema Geschlechtsumwandlung stößt heute auf wachsendes Interesse, wie Alexandra Kautzky-Willer von der Medizinischen Universität Wien berichtete. "Es gibt den Trend, dass Jugendliche ihr eigenes Geschlecht verstärkt hinterfragen und deshalb die Transgender-Ambulanz im AKH aufsuchen." Aber nur eine von zehn Personen entscheidet sich dann tatsächlich für einen irreversiblen Eingriff, so die Stoffwechsel-und Gender-Expertin. Umso wichtiger sei das gesetzliche Mindestalter, das keine geschlechtsanpassenden Operationen vor der Volljährigkeit erlaubt.

Die Erosion von fix geglaubten Identitäten hat nun auch die Ebene des Geschlechtsempfindens erreicht. In der Titelgeschichte des aktuellen Time Magazine ist gar von einer neuen Generation die Rede, welche die Bedeutung von "Gender" überhaupt neu definiert: Junge Amerikaner berichten darüber, dass ihre Geschlechtsidentität nicht mehr den beiden Kategorien "männlich" und "weiblich" zuordenbar ist und sich diese über die Zeit verändern kann. Dementsprechend werden fantasievolle Begriffe geprägt: flüssiges Geschlecht ("gender fluid"), "genderlos","genderqueer" oder "pangender". Solche Phänomene sind zwar nicht neu, aber mithilfe der sozialen Medien rücken sie nun von den Rändern in den Mainstream der Gesellschaft. Durch weltweite Vernetzung erlauben Medien wie Tumblr oder Facebook auch stark marginalisierten Gruppen eine Bestärkung ihrer Identität. Auf Facebook etwa gibt es jenseits der binären Zuordnung eine benutzerdefinierte Geschlechtsidentität.

Dass die Gesellschaft auf eine "Identitätskrise" zusteuern würde, lag schon länger in der Luft, meinte Andrea Braidt, Vizerektorin für Kunst und Forschung an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. "Künstler hatten dafür ein besonders feines Sensorium", sagte die Literaturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Gender-/Queer-Studies. "So hat mich das Thema des 'Science Talks' an einen Punk-Song der 1970er-Jahre erinnert, in dem es sinngemäß heißt: 'Identität, das bedeutet Krise!'" Braidt berief sich auf die Theoretikerin Judith Butler, die die Geschlechtsidentität als etwas Prozesshaftes beschrieben hat, das immer wieder hergestellt werden muss. Gesellschaftlich verankerte Normvorstellungen von männlicher und weiblicher Identität seien das Korsett für diesen Prozess. Sie würden bei jenen Menschen zu Leiden führen, die diesen Vorstellungen eben nicht entsprechen könnten.

Einsichten der Epigenetik

Gegen diese These des rein konstruierten Geschlechts sprach sich Josef Christian Aigner aus (siehe Gastkommentar). Der Bildungswissenschaftler und Psychoanalytiker geht davon aus, dass es eine Kernidentität gibt, zu der auch das körperliche Geschlecht zählt. Eine völlige Beliebigkeit der Identität wäre ein Ausdruck von Selbstentfremdung, so Aigner.

Gender-Medizinerin Alexandra Kautzky-Willer machte sich für einen biologisch fundierten, ganzheitlichen Ansatz stark: Denn die Genetik, die Hormone und andere biologische Aspekte des Geschlechts stehen mit psychosozialen Faktoren wie Erziehung, gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern in enger, wechselseitiger Verbindung.

"Die Epigenetik hat gezeigt, wie Einflüsse aus der Umwelt die Genaktivität verändern können und diese Veränderung auch an die nächste Generation weitergegeben werden kann", so die Professorin für Gender-Medizin (siehe Artikel rechts). Die Unterschiede zwischen Mann und Frau endlich differenziert zu betrachten, bedeute einen Fortschritt, da dies verbesserte Therapien ermöglicht - und zwar für beide Geschlechter. "In der Gender-Medizin geht es immer um Chancengleichheit, um Fairness für alle."

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