Mehr als ein Geschlecht

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Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur durch ihre Geschlechtsorgane. Sie haben unterschiedliche Symptome, reagieren anders auf Medikamente und genießen nicht immer gleichwertige Behandlungen.

Bei einem Herzinfarkt verspüren Frauen häufig Schmerzen im Oberbauch, im Rücken und Übelkeit - und nicht, wie es bei Männern oft der Fall ist, schwere Schmerzen im Brustbereich, die in den linken Arm ausstrahlen können, Druck- und Engegefühl auf der Brust und Angstgefühle - die "typischen" Herzinfarkt-Symptome, wie sie im Lehrbuch geschrieben stehen. So kommt es nicht selten zu Fehldiagnosen und die Patientinnen werden auf Erkrankungen des Magen-Darmtraktes, der Wirbelsäule oder auf psychosomatische Befindlichkeitsstörungen therapiert.

Verschiedene Symptome

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern beschäftigt die Menschheit seit jeher und seit einigen Jahren nun auch die Medizin. In Österreich, meint Anita Rieder, Professorin am Institut für Sozialmedizin an der medizinischen Universität Wien, sei man mit der geschlechtsspezifischen Behandlung des Themas Gesundheit vergleichsweise weit fortgeschritten: Der erste Frauengesundheitsbericht stammt bereits aus dem Jahr 1995 und vor kurzem wurde der zweite präsentiert. Die Stadt Wien präsentierte außerdem 1999 den ersten Männergesundheitsbericht. Auch Beate Wimmer-Puchinger, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Frauengesundheitsforschung und wissenschaftliche Leiterin des Frauengesundheitsberichts, zieht ein positives Resümee: "Es hat sich sehr viel bewegt. Wir können von dem Jahrzehnt der Frauengesundheit sprechen." Vor 10 Jahren sei man noch auf sehr viel Unverständnis gestoßen, aber Berichte und Konferenzen haben zur Sensibilisierung maßgeblich beigetragen. Auch daran, dass eine Europarat-Kommission für "Gender Differences and Health Policies" ins Leben gerufen worden ist, ließe sich erkennen, dass das Thema mittlerweile ernst genommen wird, so Rieder. Die Sozialmedizinerin vertritt Österreich in dieser Kommission, deren Aufgabe es ist, gesundheitspolitische Empfehlungen im Bezug auf geschlechtsspezifische Unterschiede auszuarbeiten.

Trotz aller Fortschritte steckt die geschlechtsspezifische Medizin in allen Bereichen noch in den Kinderschuhen. "Die meisten Ärzte neigen dazu, alle ihre Patienten so zu behandeln, als gäbe es nur ein Geschlecht: das männliche", beschreibt die us-amerikanische Medizinerin Marianne Legato, eine der Pionierinnen des jungen Forschungsbereichs "Gender Medizin", in ihrem Buch "Evas Rippe" das Phänomen. Einzige Ausnahme: die Frauenheilkunde, bei der es allerdings ausschließlich um weibliche Geschlechtsorgane, Fruchtbarkeit und Schwangerschaft geht. Gender Medizin begreift sich hingegen als fächerübergreifende Disziplin, die sich mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden beschäftigt - seien diese biologisch oder sozial bedingt. Denn diese Unterschiede beschränken sich nicht auf den Fortpflanzungsapparat, man findet sie "von den Haaren auf dem Kopf bis zum Herzschlag".

Der Mann als Maßstab

Der Grund für diese androzentrische Perspektive der Medizin ist auch darin zu suchen, dass Frauen bis Anfang der 1990er Jahre von klinischen Studien ausgeschlossen worden waren. Verschiedene Untersuchungen zeigen außerdem, dass selbst wenn Frauen in der Studienpopulation vertreten sind, wichtige geschlechtsspezifische Einflussfaktoren von den Untersuchungsfragestellungen vernachlässigt werden. Dass die Teilnahme von Frauen im reproduktionsfähigen Alter an klinischen Studien problematisch ist, da eine Schwangerschaft eintreten könnte, und dass sie und die ungeborenen Kinder vor den Risiken von Medikamentenstudien geschützt werden müssen, erscheint naheliegend. Neben diesen ethischen Überlegungen spielen allerdings auch ökonomische und rechtliche Konsequenzen von klinischen Studien mit katastrophalem Ausgang, wie es bei Contergan der Fall war, eine wichtige Rolle. Auch stellen Frauen durch die zyklusbedingten Schwankungen des Hormonspiegels eine unzuverlässige Klientel dar und verursachen zusätzliche Kosten: Um zu eindeutigen Ergebnissen über geschlechtsbedingte Unterschiede gelangen zu können, müssten mehr Frauen in Studien aufgenommen werden.

Risiko: Klinische Studien

Das Ungleichgewicht bei pharmazeutischen Studien ist aber insofern sehr problematisch, als die Reaktion von Männern und Frauen auf Arzneimittel sehr unterschiedlich sein kann. Faktoren wie der Körperfettanteil, die Hormone oder der Stoffwechsel beeinflussen die Aufnahme und Wirksamkeit von Medikamenten maßgeblich. Frauen können fettlösliche Substanzen besser speichern als Männer, die im Durchschnitt über weniger Körperfett verfügen, und somit besteht die Gefahr einer Überdosierung. Angesichts der Übermedikation von Frauen - ihnen werden zum Beispiel 70 Prozent der Psychopharmaka verschrieben - und der Tatsache, dass Frauen zwischen 20 und 40 Jahren doppelt so häufig an Nebenwirkungen leiden als Männer, wird die Dringlichkeit des Problems sichtbar.

Gender Medizin beschäftigt sich aber nicht nur mit biologischen Eigenheiten der Geschlechter, sondern auch mit den Auswirkungen der gesellschaftlichen Geschlechterrolle, dem "gender". Besonders deutlich manifestieren sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung und dem Zugang zu Gesundheitseinrichtungen. Als Beispiel können hier die Herz-Kreislauf-Erkrankungen dienen, die in den letzten Jahren sehr gründlich erforscht worden sind. Der Herz-Kreislauf-Tod ist in Österreich die führende Todesursache für Männer sowie für Frauen. Studien zeigen allerdings, dass Frauen Zugangsprobleme zur klinischen Kardiologie und weniger Chancen auf Spitzenmedizin haben. Innerhalb der Kardiologie haben sie "längere Wege" und ihre Mortalität bei Herzinfarkten ist höher als die der männlichen Patienten. In Anlehnung an eine Kurzgeschichte von Isaac Singer, in der sich die Jüdin Yentl als Mann verkleiden muss, um den Talmud studieren zu können, beschrieb die Kardiologin Bernadine Healy die mögliche Ursache für derartige Benachteiligungen mit dem Yentl-Sydrom: Frauen erhalten nur dann eine der männlichen Patienten gleichwertige medizinische Behandlungen, wenn sie beweisen können, genauso herzkrank zu sein, wie diese.

Defizite auch bei Männern

Wenn auch der aktuelle Schwerpunkt auf der Frauengesundheit liegt, darf die Männergesundheit nicht vergessen werden. Anita Rieder erscheint es vor allem wichtig, dass die Medizin damit fortsetzt, auch männliche Patienten "in ihrer gesamten Gesundheit zu sehen und nicht nur auf urologische Probleme zu reduzieren". So war die Tatsache, dass der soziale Bereich für Männer genauso eine Rolle spielt wie für Frauen, früher kein Thema. "Man hat zwar sehr viele Studien mit Männern gemacht, aber nie wirklich für Männer".

Buchtipps:

Evas Rippe

Von Marianne Legato. Übersetzt von Krista Federspiel und Ingeborg Lackinger Karger. Ullstein Verlag. Köln 2004

352 S., brosch., e 9,20

gender medizin

Geschlechtsspezifische Aspekte für die klinische praxis

Von Anita Rieder und Brigitte Lohff (Hrsg.) Springer Verlag, Wien 2004

443 S., geb., e 59,80

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