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Entartete Psychiatrie in der NS-Zeit

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„Fünfzig Jahre Psychiatrie aus persönlicher Sicht“, nannte der in dieser Disziplin führende deutsche Wissenschaftler und Arzt, Univ.-Prof. Werner Scheid, seine Abschiedsvorlesung. Darin kam er auch auf den entsetzlichen Mißbrauch der Psychiatrie in der nationalsozialistischen Zeit zu sprechen. Da viele der ausgesprochenen Gedanken auch für Österreich uneingeschränkte Gültigkeit besitzen, bringt die FURCHE einige wörtliche Zitate aus diesem bewegenden Rückblick:

Der Nationalsozialismus schwemmte nicht nur Persönlichkeiten davon, er zerstörte auch die Grundfesten der Psychiatrie und pervertierte ihre Beziehungen zum Kranken. Der erste Schritt, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, trat am 1. Jänner des nachfolgenden Jahres in Kraft... Einer unserer erfahrensten Erbbiologen errechnete, daß durch die in diesem Gesetz verankerten Maßnahmen innerhalb von 100 Jahren wahrscheinlich drei bis vier Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich aufgelöst werden könnten. Selbst also kaltes Rechnen unter Verzicht auf alle ethischen Hemmungen ■vermochte nicht, die Zwangssterilisierung zu rechtfertigen.

Dabei war es dem Arzt, der nicht gerade den Aufenthalt im Konzentrationslager anstrebte, unmöglich, die persönliche Einstellung zu den vom Staat gefor-, derten Maßnahmen zu verraten. Es blieb nichts anderes übrig, als Trost zu spenden, wo es des Trostes bedurfte.

Schon im Jahre 1937 sah mein Lehrer Kurt Schneider voraus, was folgte. Niemals werde ich das Gespräch vergessen, in dem der verehrte Lehrer mir den in vieler Hinsicht schicksalsbestimmenden Rat gab, zur Neurologie überzuwechseln, denn, so sagte er, „mit dem Sterilisieren fängt es an, das Töten wird folgen“.

Von der systematischen Tötung der Geisteskranken und Schwachsinnigen - unter der zynischen Bezeichnung „Euthanasie“ bekannt - habe ich trotz der Trennung von der Psychiatrie sogleich, nämlich bald nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, erfahren. Welche Beweggründe die Machthaber zu diesen entsetzlichen Aktionen veranlaßten, ist nicht genau anzugeben. Die Verknappung an Lebensmitteln war die eine Vermutung. Das Ärgernis, das Geisteskranke und Geistesschwache einem heroischen Volk gerade in heroischen Zeiten bereitete, gab die Grundlage für eine andere Deutung ab.

Obwohl nur wenige Psychiater sich schuldig gemacht haben und viele für ihre Kranken selbstlos eingetreten sind, hat doch, wie wir vermuten müssen, die Psychiatrie eine Wunde davongetragen, die noch nicht vernarbt ist. '

Als der Krieg und der Nationalsozialismus hinter uns lagen, erwarteten wir ein Aufblühen der einst hoch angesehenen Psychiatrie mit ihrer großen Vergangenheit und ihrer Fülle von Problemen, die auf eine vorurteilsfreie und methodenstrenge Zuwendung warteten. Unsere berechtigten Hoffnungen wurden bitter enttäuscht.

Wo werden die zahllosen Vorurteile gegen die Psychiatrie ausgebrütet, worauf zielen sie ab? Wir erwähnten die Untaten des Nationalsozialismus ... Sicher hat außerdem das breite Eindringen fragwürdiger Ideologien durchwegs pohtischer Färbung die Psychiatrie weitgehend auf den Rang einer Populärwissenschaft zu degradieren versucht, so als ob jeder hier mitreden könne, wenn er nur die angeblich einzig richtige Weltanschauung mitbrächte. Die Psychiatrie ist aber als ein Teil der Heilkunde eine Wissenschaft, die nichts mit politischen Dogmen zu tun hat und völlig ungeeignet ist, für ideologische Vorurteile mißbraucht zu werden.

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