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Ein Katalysator der Evolution

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Für den 9. Oktober 1979 hatte Professor Dr. Viktor E. Frankl eine Vorlesung zum Thema „Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn" im Auditorium maximum der Universität Wien ausgeschrieben. Zur allgemeinen Überraschung waren zu dieser Veranstaltung an die 4000 Studenten gekommen. Kaum die Hälfte davon konnte im überfüllten Saal Platz finden, die anderen mußten auf die Wiederholung dieses Vortrages am 9. Dezember vertröstet werden; auch diese Veranstaltung war überfüllt. Seit damals bringen österreichische Massenmedien immer wieder Beiträge von und über Viktor Frankl.

Plötzlich ist die „Sinnfrage" auch in Österreich „in" - jene Frage, die schon seit mehreren Jahren in den Vereinigten Staaten außerordentliches Interesse findet. Dort sind die Bücher Frankls in Massenauflagen erschienen, ein einziger Titel davon in einer Auflage von zweieinviertel Millionen Exemplaren.

Dieses plötzlich auftretende, breitgestreute und von starken Emotionen begleitete Interesse für die Frage nach dem Sinn des Lebens kann man nicht mehr als eine intellektuelle Mode abqualifizieren, hierin muß vielmehr ein Zeichen der Zeit gesehen werden. Gute Gründe sprechen dafür:

Viktor E. Frankl ist Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und zugleich Professor für Logotherapie an der U.S. International University of San Diego, Kalifornien. Er war ein Schüler von Sigmund Freud, ist aber über seinen Lehrer hinausgewachsen.

Während sich Freuds Psychoanalyse um die Bewußtmachung des „Seelischen" bemüht, bemüht sich Frankls „Logotherapie" um die Bewußtmachung des „Geistigen". Nach Frankl wird die Triebstruktur des Menschen überhöht durch eine Wertstruktur oder einen Sinnhorizont, und dies sei eine neue integrierende und heilende Dimension. Die klassische Tiefenpsychologie wird nicht negiert, sondern durch das Bild des ganzen Menschen integrierend überhöht. Es gilt, den Menschen in "seiner" GanzheiJ in den Blick zu bekohinaeri,.. und zü dieser seiner Ganzheit'gefrört"v wesentlich seine Qerichtetheit auf Sinn und Werte.

Der Wille zum Sinn ist das bestimmende Merkmal des Frankischen Menschenbildes. Der Wille zum Sinn kann aber auch frustriert werden. Das Sinnlosigkeitsgefühl führt dann zu innerer Leere, zum „existenziellen

Vakuum". Ein Mensch, der in seinem Leben keinen Sinn sehen oder finden kann, ist nicht fähig, mit Schwierigkeiten fertig zu werden, verfällt in Frustration oder weicht in Selbstmord aus.

Im Lauf seiner langjährigen Erfahrungen als Logotherapeut und auf Grund empirischer Forschungen mußte Frankl feststellen, daß die Anzahl der Menschen, die am Sinnverlust leiden, erschreckend groß ist und daß sie noch weiter ansteigt. In den westlichen Industriegesellschaften liegt der Prozentsatz solcher Menschen über 50 Prozent, aber auch in den kommunistischen Ländern und in der Dritten Welt wird der Sinnverlust zum Problem.

Dieses überraschende und zugleich bestürzende Phänomen muß uns zu denken geben. Die rapide Ausbreitung des Sinnlosigkeitsgefühls ist längst kein ausschließlich psychotherapeutisches Problem mehr. Vielmehr müssen wir annehmen, daß es sich hiebei um eine Erscheinung handelt, die mit der Menschheitsentwicklung selbst, also mit der Evolution, zusammenhängt. Aber wie?

Unsere gegenwärtige Geschichtsepoche hat zweifellos die „Aufgabe", alle Länder, Rassen, Kulturen und Staatengebilde zu weltweit organisierter friedlicher Zusammenarbeit zu bringen. Die organische und organisatorische Einheit des Menschender menschlichen Gattung geworden.

Allein schon die Möglichkeit eines Atomkrieges muß alle Völker zu Friedfertigkeit zwingen. Und die globale Zusammenarbeit ist Voraussetzung zur Rettung der Biosphäre, als des Lebensraums unserer Gattung, geworden. Obwohl aber der Ruf „Eine Welt oder keine Welt" heute in allen Sprachen ertönt, ist die Menschheit von diesem Ziel noch weit entfernt und es scheint wenig Hoffnung zu geben, daß sie es rechtzeitig erreichen könnte.

Ein gleichsam prophetisches Wort in dieser kritischen Situation hat der im Zweiten Weltkrieg gefallene französische Dichter Antoine de Saint-Exupery gesprochen. Er sagt:

„Ich habe den Eindruck, daß etwas ganz Neues auf unserem Planeten im Werden ist. Der materielle Fortschritt der neuen Zeit hat in der Tat alle Menschen durch eine Art Nervensystem verbunden. Es gibt unzählige Kontakte und dauernde Verbindungen. Wir sind körperlich zusammengefügt wie die Zellen des gleichen Leibes. Doch dieser Leib hat noch keine Seele. Dieser Organismus ist noch nicht zum Bewußtsein seiner selbst gelangt."

Der Einen Welt fehlt aber nicht nur die „Seele", es fehlt ihr auch die gemeinsame „Sprache". Natürlich können wir heute von jeder beliebigen Sprache in jede andere übersetzen lassen. Solange aber die Denkweisen, die Wertvorstellungen, die

Ideologien und die kulturellen sowie wirtschaftlichen Systeme dieser Welt so grundverschieden sind, ist ein wechselseitiges „Verstehen" eben doch nicht möglich. In diesem Sinne haben wir keine gemeinsame Sprache. Die babylonische Sprachenverwirrung dauert also immer noch an.

Hoffnung zur Uberwindung dieser Verwirrung hat uns Pierre Teilhard de Chardin gemacht. Dieser französische Jesuit prognostizierte und forderte die Ausbildung der „Noosphäre", eines weltweiten gemeinsamen und gleichgestimmten Bewußtseins, eine weltweite Ubereinstimmung in den essenziellen Denk- und Wertstrukturen. Teilhard äußerte die Hoffnung, daß, diese „Noosphäre" sich noch in diesem Jahrhundert entwickeln werde. Es solle also in naher Zeit jene globale Gemeinsamkeit des Bewußtseins entstehen, die Voraussetzung einer weltweit verstandenen „Sprache" wäre.

Bisher haben sich freilich weder die gemeinsame „Seele" noch die gemeinsame „Sprache" gebildet. Aber wird uns deren Fehlen nicht schon schmerzhaft bewußt? Ist das quälende Bewußtsein dieses Defizits nicht etwa der Grund für das sich ausbreitende Suchen nach Sinn?

Wenn wir heute eine zunehmende Verbreitung jenes von Frankl beschriebenen Sinnlosigkeitsgefühls feststellen - sollten wir da nicht annehmen, daß der Lebenssinn nicht so sehr „verloren" gegangen, als daß vielmehr die Sinnstruktur der heraufkommenden Geschichtsepoche noch nicht „gefunden" worden ist? Die Annahme drängt sich auf, daß jenes sich ausbreitende existenzielle Vakuum Vorahnung und Antrieb des menschheitsgeschichtlichen Evolutionsschubs auf die Eine Welt hin sei.

Der Umstand nun, daß Professor Frankl mit seiner Existenzanalyse und Logotherapie nach jahrzehntelangem Bemühen jetzt plötzlich einen Durchbruch erzielt, ist dann als ein Symbol dafür zu deuten, daß die Menschheitsevolution jene gemeinsame „Seele" und „Sprache" schon zu entwickeln begonnen hat, daß die Zeit hiefür reif geworden ist. Professor Frankl wird dadurch zu einem Katalysator der Evolution!

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