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Sinn im Leben gewinnen durch Hingabe

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Dem Leben Sinn zu geben durch das Engagement für eine Sache, durch Einsatz und Hinwendung zu den Menschen - Viktor E. Frankl sieht im Fehlen einer solchen Sinngebung die Ursache für menschliche Selbstzerstörung durch Aggression und Kriminalität, durch Drogenmißbrauch und Selbstmord.

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Dem Leben Sinn zu geben durch das Engagement für eine Sache, durch Einsatz und Hinwendung zu den Menschen - Viktor E. Frankl sieht im Fehlen einer solchen Sinngebung die Ursache für menschliche Selbstzerstörung durch Aggression und Kriminalität, durch Drogenmißbrauch und Selbstmord.

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Stift Dürnstein in der Wachau ist vor dem Verfall gerettet. Die Aktion zur Sanierung dieses Baudenkmals, gestartet 1985 vom ORF von und mehreren Zeitungen, ist erfolgreich. Jeder Spendenschilling wird vom Land Niederösterreich verdoppelt, in zwei bis drei Jahren wird die Renovierung abgeschlossen sein. Doch die Rettung der Bausubstanz allein sei nicht ausreichend, meinte Paul Twa-roch, Intendant des ORF-Landesstudios Niederösterreich, Anfang Juni anläßlich der Eröffnung der ersten Veranstaltung im Rahmen einer künftig vorgesehenen Reihe von Düm-steiner Gesprächen.

Das Stift, seit der Aufhebung durch Joseph II. funktionslos, solle Denk-Mal einer gelebten Landschaft werden: Zu häufig werde übersehen, daß der Mensch ein Wesen aus Leib und Seele sei. Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse genüge nicht.

Ähnlich äußerte sich Propst Maximilian Fürnsinn, der Abt des Augustiner Chorherrenstiftes Herzogenburg, zu dessen Verwaltungsbereich Dürnstein gehört. Er zitierte Kurt Tucholsky: „Die Welt ist eine Nummer zu klein geraten.” Der Hunger nach Leben treibe den Menschen auf die Suche. Aus dem Gedanken des suchenden Menschen entwickelte Fürnsinn mit Augustinus das Ziel dieser Suche, nämlich Gott. Der Mensch sei aber nicht nur ein Suchender, sondern auch ein Gesuchter - und sogar ein Gefundener.

Als Mitveranstalter der Dümstei-nerGespräche sah Gerhard Weintögl, Präsident der Ärztekammer für Niederösterreich, in der Behandlung von Leib und Seele eine Aufgabe des Arztes. Dieser habe die Verpflichtung, den Menschen heil sein zu lassen und durch sein Können den Zustand der Gesundheit herzustellen. Weintögl bezeichnete das neue Psychotherapiegesetz als ein Antihei-lungsgesetz, da es den Ärzten die Behandlung seelischer Leiden untersage, hingegen Therapeuten ohne jedes medizinische Wissen an den psychischen Problemen der Patienten „herumdoktern” könnten. Dabei vergaß Weintögl nicht, die Schuld an den neuen gesetzlichen Bestimmungen zum Teil im Verhalten von Ärzten zu sehen, die sich vielfach mehr auf medizinische Techniken konzentriert und die Seele „links liegen gelassen” hätten.

Sicherlich lassen solche Äußerungen weitere Auseinandersetzungen und Streitgespräche erwarten. Als Auftakt der Dürnsteiner Gespräch geben sie zu der Hoffnung Anlaß, daß die Idee Realität annimmt, in den barocken Mauern eine Stätte des vitalen Geisteslebens entstehen zu lassen.

Als Referent der Eröffnung hatte man mit Viktor E. Frankl, der zum Thema „Die Frage nach dem Sinn” sprach, gut gewählt. Seit jeher spalten die Theorien des 1905 in Wien Geborenen die Zuhörer in zwei Lager: Die einen bewundem seine Theorien, die anderen widersprechen ihnen auf das heftigste. Frankl ist Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, hat eine Professur für Logotherapie an der US International University in San Diego (Kalifornien), sowie weitere Professuren an der Harvard University, der Stanford University, an den Universitäten von Dallas und Pittsburg inne. Vortragsreisen führten ihn nach Australien, Asien und Afrika. Seine 28 Bücher sind in 21 Sprachen übersetzt. Allein von seinem amerikanischen Buch „Man's Search for Mea-ning” („Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn”) sind nahezu drei Millionen Exemplare verkauft worden.

In seinem Dürnsteiner Vortrag verband Frankl Autobiographisches mit Betrachtungen zur Drogenproblematik, zu Kriminalität, zum Selbstmord und zur Industriegesellschaft. Aus seinem reichen Erfahrungsschatz schöpfend verband er europäische Phänomene mit solchen aus den USA oder aus Asien.

Im Wien der dreißiger Jahre hätte er die Gründung von Beratungsstellen angeregt, in denen Hilfesuchenden unentgeltlich geholfen würde. Damals sei die drängendste Frage die der Sexualität gewesen. Bereits in den fünfziger Jahren aber sei an erster Stelle das Thema Selbstmord gestanden. Selbstmord interpretierte der Vortragende als die radikale Verneinung der Sinnfrage des Lebens.

Frankl sprach von einer „Sinnlosigkeitsneurose” (der Begriff ist nicht klinisch gemeint), deren Wurzeln im Mangel an Sinn zu sehen seien, der einer Sache oder der Beziehung zu Menschen abgewonnen werden könne. Als Beispiel für Sinngebung eines Lebens bezeichnete er Maximilian Kolbe, der sich freiwillig in den Tod begeben habe, um einem KZ-Mit-häftling das Leben zu retten. Unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Situation, Ausbildung und Religion sei jeder - so Frankl - zum Sinnerlebnis fähig.

Es sei Aufgabe des Therapeuten, dem Patienten zum Sinnerlebnis zu verhelfen. Durch das Zurückgreifen auf frühkindliche Erlebnisse sei dies nicht möglich: Der Patient zahle viel Geld, erfahre vieles von dem, was aus seinem Bewußtsein geschwunden sei, doch dieses neue Wissen mache ihn nicht glücklicher. Um den Menschen wirklich zu helfen, müßten ihnen Möglichkeiten gezeigt werden, aus den eigenen Verstrickungen aussteigen zu können. Am besten geschehe dies durch die Hingabe an eine Aufgabe oder an einen Menschen, dem man in Liebe begegnen müsse.

Solch eine radikale Ablehnung der Aufarbeitung frühkindlicher Erlebnisse stößt verständlicherweise bei vielen Therapeuten auf Widerstand. Weniger umstritten ist Frankls These von der Umwandlung der Industriegesellschaft in eine Konsumgesellschaft. In ihr würden zwar die Bedürfnisse der Menschen nach Essen, Trinken, Schlafplatz und Vergnügen gestillt, doch die Sinnfrage könne nicht verbindlich für alle definiert werden: Es gebe nichts, wofür es sich zu leben lohne. Frankl nennt dieses Defizit das „Taxisyndrom”.

Dieser Begriff sei durch ein Erlebnis in den USA geprägt worden. Auf der Fahrt zu einem Vortrag über die Situation der Jugend meinte der Taxifahrer, die jungen Menschen litten unter Depressionen, die wieder zu Aggressionen führten und den Konsum von Drogen begünstigten. Frankls Folgerung: Um aus diesem verhängnisvollen Teufelskreis auszusteigen, brauchten die Menschen das Erleben der Selbsttranszendenz: Das Leben für eine Sache, für eine Idee oder für einen Menschen könne nicht durch den Austausch von Gütern ersetzt werden. Es gelte die „Trotzmacht des Geistes” zu entwickeln. Die Fähigkeit, im richtigen Augenblick entschieden „Nein” zu sagen,

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Als Beispiel für Sinngebung bezeichnete er Maximilian Kolbe, der sich freiwillig in den Tod begeben habe... u müßte vorhanden sein.

Auch die Entwicklung von neuen Inhalten gehöre dazu. Im Gegensatz zum „Willen zur Macht” und zum „Willen zur Lust” müßte es eine.i „Willen zum Sinn” geben. Aus diesem ausgelebten Willen zum Sinn ergäbe sich zwangsläufig Lust, Freude, Befriedigung. Jeder, der glaube, Lust und Befriedigung, Freude und Unterhaltung direkt anpeilen zu können, befinde sich in einer Sackgasse, die zur Enttäuschung führen muß. Je intensiver man der Selbstverwirklichung nachjage, desto mehr verjage man sie.

Frankl legte ein flammendes Bekenntnis zur Eigenverantwortlichkeit des Menschen ab. Bei einem Besuch in einem amerikanischen Gefängnis rief er den Inhaftierten zu: Ihr seid frei, wie ihr frei ward, kriminelle

Handlungen zu setzen. Drückt euch nicht um die Verantwortung, denn Freiheit ist Verantwortung. In dem Augenblick, in dem ihr die Strafe als Vergeltung für eure Taten akzeptiert, seid ihr frei.

Diese Form der Eigenverantwortlichkeit ist freilich umstritten. In Dürnstein soll ein Diskussionsforum entstehen, in dem aus gegensätzlichen Positionen offene Diskurse geführt werden. So könne der Begegnungsort Dürnstein über die Region hinaus Bedeutung erlangen.

Am Ende von Frankls Vortrag standen Hinweise, wie der Sinn des Lebens vermittelt werden könne: Nicht durch die Verkündigung von Lehren, sondern durch Beispielswirkung, etwa des Maximilian Kolbe, durch das Vorleben von Inhalten, die so verdeutlicht würden. Als höchstes Glück sei die Hilfe anzusehen, anderen das Schicksal bewältigbar erscheinen zu lassen.

Zum Glück gehöre auch die Neubewertung des Alters und die Abwendung von der Vergötzung der Jugend. Es gehe nicht an, Menschen in Ecken abzuschieben, wo sie nicht mehr wahrgenommen und ihre Probleme übersehen würden, in denen auch die Scheu vor der Berührung mit einer unliebsamen Vergangenheit nicht überwunden werden müsse.

Wenn an der Ostküste der USA die Freiheitsstatue als Symbol für den Traum der Menschen aber auch ganzer Völker stünde, möchte Frankl an der Westküste eine Sinn-Statue errichtet sehen, die den Menschen die Bedeutung der Sinngebung des Daseins vor Augen führt. Angesichts steigender Sinnentleerung nicht nur in der industrialisierten Welt, sondern auch in den Ländern der Dritten Welt, sei dies eine Symbolfigur, die das ausklingende 20. Jahrhundert dringend brauche.

Frankl sieht nicht nur den Homo sapiens, sondern auch den Homo faber, den Homo amans und den Homo patiens: Er sei als Individuum unersetzlich.

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