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Die Realität der Religion

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Frankl betont im Vorwort zur neuen Auflage seines erstmals 1948 erschienenen Buches, das er nunmehr in Form eines „Nachtrags“ durch einiges die thematischen Schwerpunkte des „Unbewußten Gottes“ betreffendes Material aus früheren Publikationen erweiterte, die Logotherapie sollte, was den ge-genwärtign Stand ihrer Ergebnisse anlangt, nicht einzig und allein vom „Unbewußten Gott“ her beurteilt werden, sondern auch hinsichtlich der Spannweite ihres gesamten theoretischen und praktischen Bemühens. Das heißt, daß sich die Logotherapie nicht auf das theoretisch-psychotherapeutische Grenzgebiet beschränkt. Die umfangreiche Auswahl aus dem Schrifttum über Logotherapie lasse vielmehr, so bemerkt Frankl, deutlich werden, daß sich diese Forsohungsriohtung mit der klinischen Praxis beschäftigt und auf Fragen der therapeutischen Technik eingeht, daß die Motivationstheorie der Logotherapie, die Lehre vom „Willen zum Sinn“, durch die Experimentelle Psychologie ihre Validierung und das heute zunehmend aktuell gewordene „Sinnlosigkeitsgefühl“ seine weltweite Bestätigung gefunden hat. Aber eben — und damit schließt Frankl sein Vorwort ab: „Angesichts dieser immer mehr um sich greifenden Massenneurose kann nach wie vor — heute wie vor fünfundzwanzig Jahren — niemand, der ehrlich ist und die Psychotherapie ernst nimmt, deren Konfrontation mit der Theologie aus dem Wege gehen.“

Frankl hat den „Unbewußten Gott“, wie er selbst betont, als das „am gründlichsten durchkomponierte“ Werk geschrieben. Mehr als bisher wird uns heute bewußt, daß es sich von der Gesamtkonzeption der Forschungsrichtung Frankls her am besten verstehen läßt. Religion ist für die Logotherapie als einer Richtung der Psychotherapie selbstverständlich ein „Gegenstand“ ihres Wirkens, das die irreligiöse Existenz des Menschen ebenso einschließt wie die religiöse. Warum aber liegt der Logotherapie die Religion so sehr am Herzen? .

Im Zusammenhang mit Logotherapie meint Logos Sinn. „Tatsächlich geht menschliches Dasein“, sagt Frankl, „immer schon über sich hinaus, weist es immer schon auf einen Sinn hin. In diesem Sinne geht es dem Menschen in seinem Dasein nicht um Lust oder um Macht, aber auch nicht um Selbstverwirklichung, vielmehr um Smnerfüllung. In der Logotherapie sprechen wir da von einem .Willen zum Sinn'“. Das Phänomen der Gläubigkeit komme nicht allein in einem „Glauben an Gott“, sondern auch in einem umfassenderen „Sinnglauben“ zum Ausdruck, mit dem zu beschäftigen legitimes Anliegen der Psychotherapie sei, etwa in dem Sinne der Definition Paul Tiliichs (Die verlorene Dimension in der Religion, Gütersloh 1961): „Religiös zu sein heißt, leidenschaftlich die Frage nach dem Sinn unserer Existenz zu stellen“ Jedenfalls ließe sich, so bemerkt Frank! im Anschluß daran, sagen, daß die Logotherapie dazu legitimiert ist, „sich nicht nur mit dem Willen zum Sinn zu befassen, sondern auch mit dem Willen zu einem letzten Sinn, einem Übersinn, wie ich ihn zu nennen pflege, und der religiöse Glaube ist letztlich ein Glauben an den Übersinn. — ein Vertrauen auf den Übersinn“.

Frankl legt jedoch Wert auf die Feststellung, daß diese seine Auffassung von Religion „nur noch herzlich wenig“ zu tun hat mit „konfessioneller Engstimigkeit“ und religiöser Kurzsiohtigkeit“ und Intoleranz, und daß der Mensch durch das Medium jeder Religion hindurch zu Gott, zu dem einen Gott, finden kann. Aber Frankl wendet sich ebenso entschieden gegen jede nicht weniger engstirnige Auslegung menschlicher Existenz, die den Durohlbruch in jene Dimension religiösen Glaubens blockiert. Es geht hier um einen psychologistischen Reduktionismus, der, wie ihn Frankl aus didaktischen Gründen bewußt karikierend veranschaulicht, etwa so aussieht, daß erklärt wird: „Die Gottesidee entsteht aus der Urangst des primitiven Menschen vor den Naturgewalten; der heutige Mensch — der die Natur beherrscht — braucht keine Angst mehr zu halben; folglich gibt es keinen Gott.“

Das Prinzip dieses Psyohologismus ist nach Frankl letzten Endes darin gageben, daß er die spezifisch humanen Phänomene aus ihrem „Raum“ in die Ebene des Psychologischen hinabprojiziert. Ein solcher Psyohologismus tritt nun sehr deutlich in der psychoanalytischen Bewertung der Religion zutage. Nach Freud (Die Zukunft einer Illusion, 1927) wäre es besser, Gott aus dem Spiel zu lassen; dies brächte keinen geringeren Gewinn als die Genesung der Menschheit. „Die Religion ist“, sagt Freud, „die allgemeine menschliche Zwangsneurose, wie die des Kindes stammt sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung. Nach dieser Auffassung wäre vorauszusehen, daß sich die Abwendung von der Religion mit der Schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges vollziehn muß, und daß wir uns gerade mitten in dieser Entwioklunigsphase befinden.“

Manches spricht dafür, daß wir seither in dieser Entwicklung Fortschritte gemacht halben, und es scheint, als wäre Freud zum Zeugen der „Abwesenheit Gottes“ geworden, die Leon Bloy schon um 1900 seiner Zeit beschlinigte. „Gerade in einer Zeit“, so bemerkt dieser bedauernd, „die alles, auch die kleinsten Kleinigkeiten berichtet, gibt es keinen Menschen, der uns etwas Neues von Gott zu erzählen weiß.“

Niemand wird behaupten wollen, daß die lange Zeit tonangebende Psychoanalyse an der unsere Gegenwart kennzeichnenden Säkularisierung Schuld trägt. Die technische, soziale und kulturelle Entwicklung des letzten Jahrhunderts hat im modernen Menschen ein völlig andersartiges Lebensgefühl entstehen lassen, sie hat vor allem zu mehr Rationalität geführt. Wenn freilich der Altmeister der deutschen Psychotherapie, V. E. Frhr. von Gebsattel, in diesem Zusammenhang Von der „Abwanderung der abendlän-, dischen Menschheit vom Seelsorger zum Nervenarzt“ spricht, dann braucht diese Menschheit, der es sehr oft am Sinn des Lebens gebricht, nichts weniger als Psychoanalyse“. In einer nur selten durchschauten Wider&prüohliohkeit steht hier dem analytischen Pandeter-minismus eine „Diktatur der Vernunft“ gegenüber. Freud selbst träumte von dem psychologischen Ideal, „daß die Menschheit durch die Entwicklung der Wissenschaften einmal zu einer glücklicheren Zukunft gelangen wird“. Was die Religion betrifft, bekennt sich Freud noch 1936 gegenüber L. Binswanger zu ihrer Klassifizierung als „Menschheitsneurose“.

Mit der Logotherapie stehen wir aber längst nicht mehr dort, wo die Psychoanalyse stand. „Heute“, sagt Frankl, „zerbrechen wir uns nicht mehr den Kopf über ,die Zukunft einer Illusion': aber wir machen uns sehr wohl Gedanken über die Ewigkeit einer Realität — über die Ewigkeit und Gegenwärtigkeit, ja die Allgegenwart jener Realität, als weiche sich uns die Religiosität des Menschen enthüllt: als eine Realität im strengsten empirischen Sinne; eine Realität freilich, die auch unbewußt bleiben oder unibewußt werden, die auch verdrängt worden sein kann. Gerade dann aber, in solchen Fällen, ist es die Aufgabe der Existenzanalyse, diese unbewußt immer schon gegenwärtige geistige Realität vergegenwärtigen zu lassen.“

„Wenn die Gläubigkeit verkümmert, dann wird sie anscheinend verbildet“, sagt Frankl. „Haben wir aber nicht auch im kulturellen Bereich, also nicht nur im individuellen, sondern auch in sozialem Maßstab gesehen, daß der verdrängte Glaube in Alberglauben ausartet? Und dies überall dort, wo das religiöse Gefühl einer Verdrängung seitens der selbstherrlichen Vernunft, des technischen Verstandes zum Opfer fällt? In disem Sinne mag uns vieles an unseren heutigen kulturellen Zuständen wirklich als die ,allgemein menschliche Zwangsneurose' anmuten, um mit Freud zu sprechen — vieles, mit Ausnahme von einem: mit der Ausnahme gerade der Religion.“ Und vielsagend heißt es in einer Anmerkung dazu: „Wenn Goethe sagt: ,Wer Kunst und Wissenschaft besitzt, der hat auch Religion' — dann wissen wir heute nur allzu gut, wohin es führen würde, wenn die Menschheit etwa Wissenschaft und nicht mehr besäße; die Menschheit hätte dann nämlich von ihrer ganzen reinen Wissenschaftlichkeit' alsbald nur noch eines: Atombomben.“

DER UNBEWUSSTE GOTT. Psychotherapie und Religion. 3. Auflage von V. E. Frankl, Kösel-Ver-lag, München, 120 Seiten, S 94,80.

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