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Es geht um Europa

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Der erste Kongreß der „Europäischen Volkspartei“ (EVP) am 6. und 7. März in Brüssel hat mit der Verabschiedung des Grundsatzprogramms der in der EVP föderativ verbundenen zwölf '■hristdemokratischen Parteien der neun Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft den historischen Auftrag zu den Direktwahlen zum Europäischen Parlament gebracht.

Uber den Wahltermin wird der EG-Ministerrat auf seiner nächsten Sitzung Anfang April in Kopenhagen entscheiden. Die 410 europäischen Abgeordneten sollen entweder in der Zeit vom 17. bis 20. Mai oder vom 7. bis 10. Juni 1979 von den rund 180 Millionen stimmberechtigten Europäern gewählt werden. Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien wählen je 81, die Niederlande 25, Belgien 24, Dänemark 16, Irland 15 und Luxemburg sechs Abgeordnete. Sie werden auf die Dauer von fünf Jahren gewählt.

Die parteipolitische Zusammensetzung des Europäischen Parlaments wird für das zukünftige, sich erweiternde und mehr und mehr integrierende Europa von ausschlaggebender Bedeutung sein. Es wird als höchster Ausdruck der parlamentarischen Demokratie darüber zu wachen haben, ob die Europäer ein mehr sozialistischkollektivistisches Gemeinwesen haben wollen, oder ein Europa, dessen menschliche und gesellschaftliche Ordnung auf den christlichen und freiheitlichen Werten und Überlieferungen seiner Völker beruht. Unter den großen politischen Strömungen in Europa haben die Christdemokraten die Führung übernommen. Sie bilden als EVP eine Partei mit einem Programm. Die Sozialisten sind untereinander zerstritten, ihre Internationale tagt unentwegt, doch ein gemeinsames Programm für Europa haben sie nicht zustandegebracht. In der dritten politischen Strömung Europas haben die Liberalen zwar ein gemeinsames Papier für Europa erarbeitet, doch unterscheiden sie sich auf nationaler Ebene so stark voneinander im Charakter, daß sie es im europäischen Wahlkampf außerordentlich schwer haben werden.

Für den Wahlkampf bleibt nun die

relativ kurze Zeitspanne von einem Jahr. Das politische Programm der EVP ist rechtzeitig entworfen und in Brüssel verabschiedet worden. Nicht zuletzt ist das ein Verdienst des CSU-Abgeordneten Hans August Lücker und des Vorsitzenden der Christlichen Volkspartei Belgiens, Wilfried Mar-, tens, die zusammen mit Leo Tinde-mans das Tempo zum Zustandekommen des Programms bestimmt haben. Die seit über einem Jahr geführten Diskussionen in den verschiedenen nationalen Parteien und ihren Gliederungen sowie die Abstimmung der Parteien untereinander hatten bereits ein hohes Maß an Ubereinstimmung zutage gebracht Auf dem Kongreß in Brüssel erst ist es wohl auch dem letzten Zweifler klar geworden, wie stark Europa in der Christdemokratie lebt. Alt-Europäer wie Amintore Fanfani und Pierre Pflimlin, Hans Katzer und Walter Hallstein haben den Brüsseler Kongreß als Lohn ihrer jahrzehntelangen Anstrengung empfunden.

Daß mit einem richtigen politischen Programm Erfolge erzielt werden, hat-

ten die bayrischen Kommunalwahlen bewiesen. Das Wahlergebnis der CSU, vor allem in München, hat auch dem EVP-Kongreß Mut gemacht. In Vertretung von Franz Josef Strauß macht Franz Heubl dem Kongreß noch einmal deutlich, welche Wandlung sich in der Arbeiterschaft vollzogen hat. Die Vorstellung, der Industriearbeiter müsse unbedingt Sozialist sein, gehöre langsam, aber sicher der Vergangenheit an. Aus der Erfahrung der Bundesrepublik Deutschland könne man lernen, daß die Entproletarisierung -und damit der Wohlstand für alle -durch die Ordnungsgrundsätze der Sozialen Marktwirtschaft erfolgt sei. So sehr es erforderlich sei, daß Europa „mit einer Stimme“ spreche, so sehr sei es notwendig, nie zu vergessen, daß die Freiheit Europas nur gemeinsam mit der Freiheit der Vereinigten Staaten denkbar sei. Heubl warnte zurecht vor ideologischen Verengungen, auch in der EVP.

Helmut Kohl wurde konkret. Er verwies mit Nachdruck auf die noch zu leistende Arbeit. Die EVP habe erst die

Anfänge einer organisatorischen Struktur und verdanke die bisherige finanzielle Basis weitgehend der Fürsorglichkeit des Europäischen Parlaments. Kohl forderte zu einer finanziellen Anstrengung auf, die der Kraft und dem jeweiligen Mitgliederbestand entspreche. Mit dem politischen Programm müsse jetzt gearbeitet werden.

In der Tat können die Christdemokraten ihren durch den Brüssler Kongreß gewonnenen Vorsprung als einzig echte und geschlossene europäische Partei ausbauen. Dazu wäre es allerdings angebracht - neben allen notwendigen Überlegungen zur Organisationsstruktur - baldmöglichst über einen Fragenkatalog nachzudenken, der sich nicht nur mit der Gesamtpersönlichkeit des zukünftigen Europarlamentariers, seinen Charaktereigenschaften und seinen Fähigkeiten befaßt, sondern auch die zukünftigen Arbeitsbedingungen für das gesamte Parlament in die Überlegungen einbezieht. Leo Tindemans selbst antwortet am Ende des Kongresses auf Fragen von Journalisten, der zukünftige Europarlamentarier müsse die höchsten Qualitäten besitzen. Welche diese Qualitäten objektiv gesehen sein müssen, steht noch nirgends geschrieben.

Das „Szenarium für 410 Europarlamentarier“ müßte rasch erforscht und erstellt werden. Eine solche Aufgabe übersteigt alle Möglichkeiten einer einzelnen Partei. Denn so sehr das bisherige europäische Parlament der 198 - und darin die Arbeit der CD-Fraktion unter Egon Klepsch - als eine Vorstufe angesehen werden kann: die Zusammensetzung, Arbeitsweise und die Arbeitsbedingungen des Parlaments der 410 wird damit kaum zu vergleichen sein. Geht man von der Idealvorstellung aus, die Gesamtheit der 410 Abgeordneten müsse die Wissens- und Erfahrungsgemeinschaft der Menschen in den neuen EG-Ländern nicht nur repräsentieren, sondern auch in eine friedliche Zukunft hineinsteuern, ergibt sich von selbst eine zwingende Notwendigkeit: Mit Hilfe regierungsunabhängiger Auftragsforschung jene objektiven Kriterien herauszuarbeiten, welche die zu stellenden Anforderungen an die Europarlamentarier und an das Parlament als Ganzes transparent machen können.

Mit diesem kühnen Vorausgriff auf die Zukunft würde die kostbarste „Produkt-Innovation“ in Europa, sein zukünftiges Parlament, auch für jeden Bürger faßbar. Um seine Entscheidung geht es schließlich. Der Wähler wird seine Stimme demjenigen geben, j dem er Vertrauen schenken kann, weil er davon überzeugt ist, daß sein Kandidat die Reife besitzt, sein eigenes Gewissen auch bei politischen Entscheidungen richtig einzusetzen. Wer nicht in der Lage ist, den neuesten | Stand der Geistes- und Naturwissenschaften zu erfassen, wer nicht die en-igen Horizonte der Parteilichkeit zu ! überschreiten vermag und keinen i Charakter hat, der gehört nicht ins Europa-Parlament.

Brüssel war für die Europäische Volkspartei ein Anfang. In einem Jahr wird gewählt. Dann wird man sehen, was die Christdemokraten aus ihrem Programm mit ihren Menschen gemacht haben.

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