6747175-1967_13_03.jpg
Digital In Arbeit

Die Rechtsabhngigkeit des Richters

Werbung
Werbung
Werbung

Daß ich für die denkbar strengste Gesetzesunterworfenheit des Gerichts, welcher allerdings die Rechtsunterworfenheit, namentlich die Verfassungsunterworfenheit des Gesetzgebers (Verdroß) vorgeordnet ist — daß ich also im Namen des Rechtsstaates als Richterstaates für die denkbar strengste Legalität (Gesetzmäßigkeit) und Legitimität (Verfassungsmäßigkeit) der Rechtsprechung die Trommel rühre, erklingt am lautesten aus meiner Abhandlung: „Der Richter und die Verfassung“ („Juristische Blätter'), Wien, 83. Jg., Heft 15/16 v.“2. Sept. 1961, S. 385 bis 395), die mir die Schelte Fritz Werners, Berlin, eintrug, ich redete einem Verfassungspositivismus („Marcic als Positivist!“) das Wort. Worum ich streite, besessen und leidenschaftlich, ist zu verhüten, daß, auf welcher Stufe immer, Macht ohne Rechtsgebundenheit gehandhabt wird. Eine andere taugliche und wirksame Verbürgung der Rechtmäßigkeit aller Staatsfunktionen als die gerichtsförmige Rechtskontrolle ist bis zur Stunde niemandem eingefallen. Zugegeben, ein schier unlösbares Problem wälzt sich auf uns zu, bedenkt man, daß, wer prüft, im Augenblick des Prüfens höher steht als der Gegenstand der Prüfung, sohin als die Setzer des nämlichen Gebildes. Die Macht des Parlaments erleidet eine Schmälerung, wo Gerichte seine Beschlüsse, Gesetze, auf deren Rechtsgehalt (Verfassungsmäßigkeit, Völkerrechtmäßigkeit) untersuchen und an das Ergebnis der Erhebungen Rechtssanktionen knüpfen. Aber die Würde des Parlaments büßt nicht das geringste ein; im Gegenteil, wie der Meister in der Beschränkung sich zeigt, so wächst das Ansehen des Parlaments, wenn es sich von Richtern wie von Ärzten auf die Rechtsgesundheit seiner Tätigkeit anschauen läßt. Selbst Jugoslawien,ein kommunistisch regierter Staat, der auf die Souveränität des Parlaments baut, setzt ein Verfassungsgericht ein. Gottes Allmacht tut es keinen Abbruch, wenn die Sprüche der Mathematiker unerbittlich gelten — warum soll das Parlament Schaden nehmen, wenn es die unbedingte Oberherrschaft der Verfassung anerkennt und zum Zwecke der Garantie des Verfassungsvorrangs wie des Völkerrechtsprimats das präpositiv gegebene, positiv allerdings einengbare (gar aufhebbare?) richterliche Prüfungsrecht (judiciäl review) hinnimmt? Man vergißt: Selbst dort, wo ein Gericht Gesetze prüfend sich funktional über den Gesetzgeber erhebt, verharrt es in der Stellung eines Gerichts. Denn es vollzieht ranghöhere Normen nicht, wie der Gesetzgeber, unter dem Hauptgesichtspunkt der freien Gestaltung, sondern unter dem der Rechtsvollziehung. Hier ist die Rechtsschöpfung gleichsam ein Nebenprodukt, dort, beim Gesetzgeber, ist die Rechtsanwendung gleichsam ein Nebenprodukt, die Rechtsschöpfung das Hauptprodukt. Die Quantität, die Relativität des Gegensatzes zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung, glättet nicht jeden Unterschied überhaupt.

Richterstaat ist nicht der Staat des Richterkönigs, vielmehr der Staat, wo deshalb der Richter das letzte Wort spricht, weil das Recht, nicht die Macht, als oberstes Prinzip gilt — der Staat, wo das Machtwort von einem Organ gesprochen wird, hinter dem keine soziale Macht sich ballt, sondern soziale Ohnmacht gähnt, dafür: die Macht des Rechts waltet. Steht allezeit Recht über der Macht, geht jenes dieser voraus, wie Kelsen lehrt (Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 9; Allgemeine Staatslehre, Paragraph 44 lit. B, P. 2, S. 323 f.), dann ist Gerichtsbarkeit die eigentliche Staatlichkeit (vgl. meine Inaugurationsrede „Der Staatsmann in der Demokratie“, Salzburg 1966), welches Konzept der Baumeister unseres Bundesverfassungsgesetzes 1920 aus dem Entwurf Dantes schöpft. Denjenigen, denen nichts Besseres einfällt, als zu fragen: „Und wer wacht über die Wächter?“, erteilen Kelsen und Merkl die gehörige Abfuhr. Der Mangel der Vollkommenheit kehrt sich nicht wider die Einrichtung, die, nach menschlichem Ermessen, die Rechtsherrschaft bis aum höchsten Grade steigert. Namentlich Kelsen schleudert den Gegnern des richterlichen Prüfungsrechts das Wort ins Gesicht, es sei ihnen offenbar das Maschinengewehr lieber als das Gericht, das friedlich Machtkonflikte schlichtet.

Fesselnd ist die Weggenossenschaft, in der immerzu Weltrechtsdenken und Einsicht in den Richterstaat uns begegnen: bei Dante wie bei Verdroß, bei Johannes XXIII. wie bei Paul VI. und Ottaviani — wie bei Kelsen, der durchaus dafür ist, „daß durch möglichste Ausdehnung der Gerichtsbarkeit nach allen Richtungen das Leben in der sozialen Gemeinschaft möglichst wenig gefährlich werde“. Er fügt an: „Ich bin der Überzeugung, mich damit nicht nur zu einem Ideal zu bekennen, auf dessen Verwirklichung die ganze Rechtsentwicklung der Menschheit seit jeher gerichtet ist!“ (Staatsgerichtsbarkeit, S. 123,Schlußwort). Derselbe beteuert: „Läge es Im Wesen der Gerichtsbarkeit, unpolitisch zu sein, dann wäre eine internationale Gerichtsbarkeit unmöglich.“ (Wer soll Hüter der Verfassung sein? S. 15 f.). Sie bietet sich jedoch als einzige tunliche Alternative zur Vernichtung des Menschengeschlechts.

Ebenso fällt es auf, daß Demokratie und Richterstaat allerwege gemeinsam erscheinen. Demokratie meint Mitwirkung des einzelnen und der Gruppen an der Rechtsordnung, die sie birgt. Ich wirke bei Wahlen, Abstimmungen, bei der Berufung des Staatsoberhauptes und im Verwaltungsverfahren im Alltag mit. Allein, in keinem Rechtserzeu-gungs- und -anwendungsverfahren Ist die Mitwirkung so gesichert und Intensiv wie im Gerichtsverfahren, wo ich das Subjekt des Prozesses, Partei im Prozeß bin, „Partei“ im prozeßtechnischen Sinn. Nicht von ungefähr erachteten die Alten, die Römer und Griechen, das Gerichtsverfahren als das Palladium der Demokratie.

Wesens- und denkgesetzlich gilt: Volksherrschaft (Volkssouveränität) fordert Prüfung, ob die Abgeordneten als Mandatare mit den Gesetzen, die sie erlassen, vom Grundauftrag, dem Mandat des Volkes, den die Verfassung verwahrt, abweichen. Die dritte, die richterliche Gewalt, ist ebenso ein Organ und Repräsentant des Volkes, Hüter der Gesamtheit, die Mehrheit und Minderheit versammelt, wie sie Organ und Repräsentant der Rechtssouveränität ist. Richterstaat — nicht, um das Gesetz abzuwerten, vielmehr um es unter dem Vorrang der Verfassung aufzuwerten. Kelsen: „Es ist daher begreiflich, daß in den republikanisch-demokratischen Verfassungen das richterliche Gesetzesprüfungsrecht entweder unbeschränkt besteht (etwa USA) oder in Form einer speziellen Verfassungsgerichtsbarkeit.“ Nimmt eine. Verfassung dem Richter das Prüfungsrecht, wird „die Verfassung in dem entscheldensten Punkte denaturiert.“

Der friedliche Ausgleich zwischen Minderheit und Mehrheit steht zur Frage. „Zu den Existenzbedingungen der demokratischen Republik“, schreibt Kelsen, „gehören Kontroll-elnrichtungen.“ Welter heißt es: „In demselben Maße, wie die Demokratisierung fortschreitet, muß die Kontrolle verstärkt werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Verfassungsgerichtsbarkeit zu beurteilen... sie leistet die Funktion eines wirksamen Schutzes der Minorität gegen die Übergriffe der Majorität. Wenn man das Wesen der Demokratie nicht in einer schrankenlosen Majoritätsherrschaft, sondern in stetem Kompromiß zwischen den im Parlament durch Majorität und Minorität vertretenen Volksgruppen erblickt, dann ist die Verfassungsgerichtsbarkeit ein besonders geeignetes Mittel, diese Idee zu verwirklichen!“ Sie, die Verfassungsgerichtsbarkeit, ist das in der Demokratie zur Rechtskontrolle berufene Organ, Im Namen der Verfassung, zum Schutze der Minorität, zur Mäßigung der Majorität, zum Wohl der Gesamtheit. Die Opposition ist kein Kontrollorgan; das Parlament als Ganzes, von der Majorität getragen, kontrolliert die Regierung.

Sogar in der Schweiz, wo die Volkssouveränität eine Präponderanz gegen ddie Rechtssouveränität genießt, wird jetzt erkannt: „Im besonderen wäre es erwünscht, die inhaltlichen Schranken der Volksinitiative eindeutig zu umschreiben und den Entscheid über die Zulässigkeit von Volksinitiativen einer richterlichen Instanz zu übertragen.“ (Prof. Doktor Dietrich Schindler, Ausbau und Aufbau der Demokratie?, Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 301, vom Donnerstag, dem 22. Dez. 1986, Blatt 7, letzter Satz!). Das letzte Wort dem Richter.

Wo im „Richterstaat“ von Aristokratie und Elite die Rede ist, wird offenkundig nur ein Deutungs-Schema au der Doktrin von der Gemischten Verfassung gehölt, wie Aristoteles, Polyblos, Cicero, Thomas Von Aquin, Edmund Burke, Montesquieu, die Väter wie die ersten Kommentatoren der amerikanischen Unionsverfassung (Federalist Papers) und Max Imboden sie entfalten. Mit einem „elitären“ Denken, das mir ganz und gar fremd ist, was mein Schrifttum und meine Vorlesungen beweisen, hat das nicht das mindeste zu schaffen, ebensowenig mit „Aristokratie“ im ständischen oder blutsadeligen Sinn. Es geht um einen fachtechnisch fixierten funktionalen Terminus: So streiten die Gelehrten, ob in den USA der Senat oder der Supreme'Court das aristokratische Element (neben dem monarchischen der Präsidialfunktion und dem demokratischen des Kongresses und des Volkes als Krea-tions- und als plebiszitären Organs) inkorporiert. Andere Interpretationen erweisen sich als Unterstellungen. Das nämliche gilt, wo man mir — mehr versteckt als offen — eine Mythologie vom Richterkönigtum zu unterschieben trachtet. Mit Zitaten, die man aus dem Zusammenhang reißt, und mit der Unterlassung, mein Jüngeres und jüngstes Schrifttum, das meine Denkbewegung und -entfaltung markiert, zu berücksien-tigen, kann man bekanntlich, wenn man will, alles tun.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung