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Richter als Werkzeug
E i n Konzept schließt fürwahr den Richterstaat in welcher Gestalt immer aus: das von der Souveränität des Parlaments, nicht das von der Souveränität des Volkes — das von der unumschränkten Macht der Volksvertretung. Es hat keine Berechtigung und es steht für sich — aber es ist nicht das, welches unserer Verfassung zugrunde liegt. Wer Kelsen, dessen Leben und Werk kennt, wird nicht umhin können, mir hier zuzustimmen, vorausgesetzt, er besinnt sich, daß Kelsen unsere Verfassung geistig trägt und prägt.
Am Ende des zurückgelegten Gedankenganges sei hinterlegt, was sich zu Beginn anzubringen geschickt hätte: Wohl Ist der Richterstaat auch ein Postulat, In dem Maß, wie ich ihn, stets in der Lage, mich auf Kelsen zu berufen, freigelegt habe; aber er ist mehr eine Diagnose, Ich zeichne nicht den Weg zum Richterstaat als etwas unbedingt Erwünschtes, vielmehr stelle ich der Gegenwart die Diagnose, lege die Linien frei, auf denen die Gesellschaft sich zur Weltgesellschaft fortbewegt, die sich unter einer Weltrechtsordnung und Weltgerichtsbarkelt versammelt.
Die Erfahrung lehrt: Der Umfang der Aufgaben, die den Gerichten zugewälzt werden, wächst; wenn schon nicht ein Gericht in Bewegung gesetzt werden kann, so will man wenigstens vor eine Kommission kommen, in der Richter sitzen. Wir sind soweit, daß Mittel- und Hochschüler, Habilitationswerber Gerichte anrufen, wenn sie sich In Ihren Rechten verkürzt fühlen. Daneben Ist zu verzeichnen, daß die Grenzen zwischen Gerichtswesen und Verwaltung mehr und mehr In die Gegend richterlicher Funktion laufen, dort verblassen. Die Verwaltung sucht, Im Namen des Legalitätsprinzips, der strengen Normgebundenheit, die Fesseln der Einzelweisungen abzuschütteln; sie nimmt mehr und mehr Züge der Gerichtsbarkeit an! Diese Tendenz nenne ich Richterstaat.
Zudem: Im 19. Jahrhundert, als die gesellschaftlichen Verhältnisse im großen und ganzen statisch und überschaubar waren, reichte das Gesetz, wo es die soziale Gerechtigkeit herzustellen galt. Heute wechseln die sozialen Bewandtnisse mehr und mehr, rascher und rascher, spezialisieren und differenzieren sich die Bedürfnisse des Menschen in einer Weise, daß die Natur des Gesetzes als einer generellen Norm versagt; der Richter muß beispringen, soll die Sozialgerechtigkeit ihren Sinn in der konkreten Situation für eine bestimmte Person erfüllen.
Von alters her wird der Mensch als das Wesen gedeutet, das um seiner selbst willen da ist: nicht um des Staates noch um der Herrschenden willen. Das Recht stiftet die alle Glieder der Gesellschaft, „Freund“ und „Feind“ umgreifende, vollends den Schwächeren schützende Ordnung, wo der Mensch als Selbstzweck sich zu behaupten vermag, die Freiheit vollzieht. Diese ist dort nach menschlicher Erfahrung und nach menschlichem Ermessen am wirksamsten verbürgert, wo der vom Willen anderer unabhängige Richter, abhängig von Recht und Gesetz, am Ende aller Wege steht und im Namen des Rechts, nicht Im Namen der Macht das erlösende Wort findet. Vollkommenheit Ist In unserer Welt weder bekannt noch erwünscht.
* Etwa der Verfassung, dem Vjsrfas-sungsgesetz, dem Völkerrecht, den Allgemeinen Rechtsgrundsätzen gegenüber, die als ius gentium gelten und angesprochen werden. A. d. V.
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