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Die Verfassungsgerichtsbarkeit

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Wer Joachim von Fiore (1132—1202) ernst nimmt Vid seinen Glauben an das Zeitalter des Heiligen Geistes, an die Zukunft der Freiheit teilt, der wird vielleicht den Sinn des Satzes verstehen, den sich der Rezensent zur Leitidee seiner Gedanken über Recht und Staat gebildet hat: die politischen Formen bewegen sich auf die Gestalt des Richters zu. Ermacora, dessen Arbeiten übrigens Auer zitiert und als vorzüglich qualifiziert, übergibt der Oeffentlichkeit ein Buch „in der Hoffnung und mit dem Wunsch, dem Rechtsforscher Problemstellungen zu bieten, den Praktiker des Rechts und den Rechtsuchenden bei ihrem Kampf um das Recht zu unterstützen und jedem Leser einen Eindruck von der Vielfalt rechtlicher Formen, vom Bemühen um ihr Erlassen und vom Wirken des österreichischen Verfassungsgerichtshofes“. Wenn man unser Urteil nicht als Vermessenheit auffaßt, so dürfen wir sagen, daß Ermacora nicht zu viel verspricht. Sein wissenschaftlicher Stil unterscheidet sich von der Art eines Adamovich und Spanner dadurch, daß in allen Befrachtungen stets ein leiser m e t a j u r i-stisch-theoretischer Unterton mitschwingt, der auch undogmatische Geister anspricht. Da Thema, das er hier aufgegriffen und zu einem empfehlenswerten Behelf für den Praktiker, der Text und Kommentar in einem braucht, geformt hat, bildet unseres Erachtens den Kern der politischen Wissenschaft und Praxis im modernen demokratischen Rechtsstaat: die Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Politik gehört unter die Herrschaft des Rechts, das ist die Lehre, die wir aus der Vergangenheit des NS-Willkürstaates gezogen haben, das ist die Erfahrung angesichts der Gewaltstaaten, die sich an dem Saum unserer östlichen, nordöstlichen und südöstlichen Grenzen niedergelassen haben. Die rechtliche Kontrolle ist der Sinn des Grundsatzes der Trennung der Gewalten: die Gewaltenteilung ist kein Selbstzweck. Wenn daher die Verfassungsgerichtsbarkeit die Richtergestalt nicht nur über die Regierung, sondern auch über das Parlament und den Bundespräsidenten erhebt, dann mag das irgendwo formal gesehen ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung sein; im Lichte der vollen Wirklichkeit ist das die Krönung des Rechtsstaates. Wenn Ermacora auf Seite 23 8 schreibt: „Allzuoft wälzt er — der Gesetzgeber — durch unrichtige Wahl die Entscheidung, die er auf politischem Gebiet hätte treffen müssen, auf das Gericht ab, das dadurch in seiner Funktion gefährdet wird“ — dann übersieht der Kommentator die Chiffren der Zeit. Wenn der Sinn der westlichen freiheitlichen Demokratie darin liegt, daß das politische Geschehen rechtlich — und das heißt: richterlich — kontrolliert und in Schranken gehalten werden soll, dann wird eben in Zukunft in steigendem Maße die Instanz der Gerichte bestürmt werden. Der Richter kann und darf sich dieser Aufgabe, die ihm die Zeit stellt, nicht entziehen. Schon einmal hat ein Stand, an den die Zeit mit Forderungen herangetreten war, versagt: das deutsche Offizierskorps in der Weimarer Republik und im Hitler-Staat. S o 1 o n, wohl einer der größten Gesetzgeber alier Zeiten, soll absichtlich, wie Piutarch berichtet, „durch unscharfe und vielfach zweierlei Deutung zulassende Abfassung der Gesetze die Macht der Gerichte verstärkt“ haben. Die Substanz des Staates ist nicht der Gesetzgeber, sondern der Richter. Jeder Staat bedarf des Beständigkeitsfaktors, der die Staatlichkeit des Staates ausmacht; in einer demokratischen Republik fällt die Funktion dem Verfassungsgericht zu.

Was wir vermissen, ist ein tieferes Eingehen auf die Problematik der Grundrechte des Menschen. Formal hat Ermacora dieser Partie jenes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt, das der Stellung entspricht, die die Grund- und Freiheitsrechte in der Systematik der österreichischen Verfassung und in der Judikatur des Verfassungsgerichtes einnehmen. Vom geschichtsphilosophischen Standpunkt aus tritt jedoch die Person wieder ins Zentrum der Untersuchung.

Das caeterum censeo jedes fortschrittlichen österreichischen Juristen sollte sein: die Verfassungsgerichtsbarkeit muß vertieft und erweitert werden! Mensch — Recht — Freiheit sind die dreifaltigen Formen der einen Wahrheit des Seins.

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