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Digital In Arbeit

Gefühl im Pauschalpreis nicht inbegriffen

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Unbekannte Länder, exotische Kulissen: Das ist der Stoff für die großen Urlaubsträume. Viele Touristen denken meist nur an ihr kurzweiliges Vergnügen und kaum an die „Bereisten” und ihre Kultur.

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Unbekannte Länder, exotische Kulissen: Das ist der Stoff für die großen Urlaubsträume. Viele Touristen denken meist nur an ihr kurzweiliges Vergnügen und kaum an die „Bereisten” und ihre Kultur.

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Für die schönsten Wochen des Jahres” (die Werbung der Tourismusindustrie hämmert uns diesen Slogan unentwegt ein) ist das Beste gerade gut genug. Der von der Arbeit gestreßte Mensch wird angehalten, das Abenteuer zu suchen, das viele Gesichter haben kann: Familien in malerischer Umgebung, Säuglinge in pittoresken Lehmhütten, Krebse, Afrikaner, Mönche, Lianen, Rum, Nackte, Riffe, Haie, Affen, Schildkröten, Athleten, Lastenträger, Indianer, Taxis, Busse, Privatautos, Kamele, Löwen, Wahrsager, Wunderheiler, Eingeborene im Kral, im Langhaus, im Boot und auf dem Fußboden der Bahnstatfonen schlafend.

Dabei ist die Region eigentlich nebensächlich. Ach, das Land, dieses oder jenes Land, unser oder ein anderes Land. Welches Land letztlich bevorzugt wird, hat nicht zuletzt mit den entscheidenden Reizworten der Fremdenverkehrswerbung zu tun. Und es hängt von der medialen Berichterstattung ab, wobei Berichte über Naturkatastrophen und Bürgerkriege, über Seuchen und Bevolutio-nen, über Armut und Verbrecherorganisationen häufig keinen wesentlichen Grund darstellen, in ein Gebiet nicht hinzufahren.

Man kann dieses Verhalten der Menschen der Ersten Welt auf ihre übersaturierte Situation zurückführen. Jene, die sich den Spielregeln der Industriegesellschaft am geschicktesten angepaßt haben, müssen sich wohl oder übel mit der Tatsache abfinden, daß selbst ihre Entscheidung, einige Wochen lang auf alle Annehmlichkeiten zu verzichten und in einer Bretterbude in der Dritten Welt zu hausen, eine Luxusentscheidung ist. Drei oder bloß zwei, vielleicht auch mehrere Wochen lang erleben zu wollen, wie Menschen von Moskitos geplagt werden, weil sie ungehindert

zwischen den Lücken der Bretter und der Wellblechstücke ein und aus können, hat letztlich dieselbe Qualität, wie sich für ein Luxushotel zu entscheiden, in dem ein Boy oder ein Girl auch in Ländern, in denen aus Glaubensgründen der Alkoholgenuß verboten ist, den „Whiskey on the Rocks” zu einem Preis bringt, von dem eine mehr-köpfige Familie mehrere Wochen leben könnte.

Wer also einige Wochen in einer Gegend leben will, in der die Müllabfuhr nie vorbeikommt, das Spülwasser so abfließt, wie es sich gerade ergibt, sich Unrat zu Haufen türmt, die Straßen während der Regenzeit im Morast versinken oder während der Trockenzeit sich gnadenlose Staubfontänen heben und sich das ganze Jahr über Fliegen, Moskitos und Kakerlaken um den Lebensraum für Menschen zu streiten scheinen, muß sich als Luxusgeschöpf einstufen. Nicht nur beim ersten Anzeichen einer Krankheit fliegt der Vertreter der Ersten Welt nach Hause, sondern schon viel früher: Es genügt die Empfindung, daß dieses Leben ohne all die gewohnten Annehmlichkeiten ein wenig fad zu werden beginnt. Und das Schlimmste, was einem üblicherweise passieren kann, ist die Erkenntnis, daß viel Geld für etwas ausgegeben wurde, wa' sich letztlich nicht gerechnet hat. Subjektiv gesehen, steht der Aufwand in keiner Relation zum Gewinn. Das gilt bekanntlich für die Menschen, die in einer Gegend leben, in der Fluglinien, Versicherungsanstalten und Banken aus guten Gründen keine Büros unterhalten, nicht.

Der zairesische Schriftsteller Henri Lopes formulierte treffend, „ein Staat mit Selbstachtung zeigt niemals seine Hinterbacken, wie knapp es auch hergehen mag'^. Menschen, die in solchen Gegenden leben, hausen in den nicht herzeigbaren Hinterbacken, und gerade sie gelten bei Alternativtouristen als besonders besuchenswert. Ihre Gastfreundschaft ist im höchsten Maße sprichwörtlich geworden. Selbst im Elend, für Menschen aus der Ersten Y\ elt handelt e$ sich um elendigliche Verhältnisse, selbst dann, wenn die Solidarität innerhalb der Gruppe faszinieren mag, sind diese Bewohner der Hinterbacken bereit, Tür und Herz für den Fremden zu öffnen. Fragt sich nur, wie oft sich der Besuchte diesen Luxus leisten kann.

Was kann so ein Slumbewohner von einem Vertreter der Ersten Welt lernen? Daß es Länder gibt, in denen es sich jedermann leisten kann, daß die Kinder zur Schule gehen, oder daß ein Cola trotz des viel höheren Preises im

Industrieland ein erschwingliches Gesöff ist, oder daß Rauchen zum guten Ton gehört? Wer weiß, daß die Zuwachsraten im Rauchkonsum in Ländern der Dritten Welt die Verluste der Tabakmultis in den Ländern der Ersten Welt aufwiegen, würde sich den Glimmstengel während der Reise versagen. Doch das Gegenteil ist viel eher der Fall. Der Gast hat Zeit und Muße, daher raucht er mehr und wird damit zum Trendsetter.

Es wäre nun töricht, alle Probleme der Dritten Welt auf den Touristen aus der Ersten Welt zu schieben. Nur soll man halt, wie man treffend im Sprichwort sagt, die Kirche im Dorf lassen. Der Tourismus allein ist eben auch kein Motor für die Entwicklung. Weder das Vorzeigehotel noch die Alternative im stickig heißen Wüstenzelt vermögen den Lebensstandard eines Landes zu heben. Dazu sind sie auch nicht erdacht worden.

Eigentlich müßte etwas ganz anderes berühren. Wer Menschen außerhalb der Tourismusmaschinerie erlebt hat, weiß, wie sich Afrikaner beispielsweise bewegen. Wie verändert sich Haltung und Habitus! Plötzlich sind sie Gefangene derselben Zwänge, wirken

beschäftigt und verspannt. Sie benehmen sich westlicher als die Europäer. Das gilt für die, die sich aus Prestigegründen in ein großes Hotel begeben, um dort zu essen und zu trinken. Was. Tausende Menschen aus der Ersten Welt machen, kann in ihren Augen nicht falsch sein. Die andere Gruppe, die der Dienenden, wird ihrem Boyoder Girlimage auch dann gerecht, wenn in der Übertreibung der Gesten ein Schimmer an Sarkasmus durchklingt.

Also sollte man den Tourismus überhaupt sein lassen? Vielleicht ja, wenn man stur glaubt, daß er Völker zusammenbringen kann. Vielleicht ja, wenn man glaubt, die Welt brauche keine Geheimnisse mehr zu haben, weil die Menschen der Ersten Welt das Recht hätten, alles kennenzulernen. Vielleicht ja, wenn man die Hoffnung verlöre, daß aus dem Touristen ein Reisender werden könnte, der, um es poetisch mit Zbigeniew Herbert zu sagen, das Wandern eines Schattens einer Säule beobachten möchte. Oder, um es realistischer auszudrücken, Orte des Lebens kennenlernen möchte, um sich dabei auch bewußt zu werden, wie sehr die erlernte Optik das Bild der Welt verzerrt. Wer reist, um gleichzeitig Nähe und Distanz zu erfahren, um aus Desillusionierung und Identi fikation das Eigene und das Andere zusammensehen möchte und dabei zu trennen lernt, macht den Schritt in die richtige Richtung. Wer durch eine Reise erkennt, wie banal viele unserer Probleme sind angesichts der dramatischen Verhältnisse anderswo und sich für diese Erkenntnis schämt, ist auf dem richtigen Weg.

Solche Erkenntnisse lassen sich allerdings nicht verordnen in einem Grand Hotel, nicht durch eine Abenteuertour durch ein Hungergebiet vermitteln oder durch einen Besuch irgendeines folkloristischen „Naturvolks” (unlängst waren sie noch Kopfjäger und Menschenfresser) in irgendeinem Dschungel heraufreizen. Für solche Erkenntnisse braucht es mit Sicherheit Zeit, also nicht nur die „schönsten Wochen des Jahres” und auch den Willen, den Verlust an Welt auch und vor allem in der eigenen Kultur erkennen zu wollen. Es ist nicht die Trauer um vergangene Exotik oder verschwundene Tradition, sondern die fortschreitende Gleichmacherei, das Nivellierende, der Konsumismus und Totalitarismus.

Anders gesagt: Wer den Prozeß der Sünplifizierung in den westlichen Gesellschaften nicht erkennt, kann den Kulturverlust in Ländern der Dritten Welt nicht erkennen.

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