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Zwischen Dekadenz und Brutalität

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VIERZEHN TAGE LANG sind in dieser aus Luxus und Snobismus genährten Atmosphäre des mondänen Badeortes an der Cöte d'Azur Filme von 32 Nationen über die in allen Dimensionen von normal bis Supertechnirama wechselnde Leinwand gelaufen. Lediglich Deutschland und Österreich hatten keinen Spielfilm zu dieser XIII. internationalen Konkurrenz nach Cannes gesandt, die vielleicht deutlicher als in den vorangegangenen Jahren die seelische und geistige Zerrissenheit der Gegenwart mit ihrem gewissen Hang zum Abstrusen, zum Anomalen in den gezeigten Werken widerspiegelte. Von erotischer Hysterie bis zu brutalen Verbrechen fehlten keine sinnlichen Ausschweifungen, die einem hier nicht — meist unter dem Deckmantel „Zeit- und Gesellschaftskritik“ — dargeboten worden wären.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, die sich auch um eine künstlerisch geformte ethische Aussage bemühten, übermannte einen sicher nicht prüden Zuschauer das Gefühl, Produzenten und Verleiher, aber auch Autoren und Regisseure von West bis Fernost hätten nur in den Schattenseiten menschlichen Trieblebens zuzüglich verbrecherischer Neigungen Themen für ihre teils recht fragwürdigen Zelluloidprodukte finden können. Diese Anschauung wurde auch in der hektisch brodelnden Meinungsbörse des Luxushotels Carlton entsprechend propagandistisch genährt. Eines der Hauptargumente: Die durch die täglich auf sie einstürmenden Sensationen abgestumpften Sinne der Kinobesucher könnten nur noch durch thematische oder bildliche „Schocks“ solcher Art aufgerüttelt werden.

DIE JURY, die in diesem Jahr hauptsächlich aus Literaten der verschiedensten Prägung, vom Kriminalschriftsteller Georges Simenon bis zum Amerikaner Henry Miller, zusammengesetzt war und der als einzige Frau die aparte Französin Simone Renant angehörte, bekannte sich jedenfalls auch zu dieser Meinung, indem sie Fre-derico Fellinis langatmige Episodenschilderung von der Morbidität der römischen Gesellschaft, „La dolce vita“ (Das süße Leben), mit dem Großen Preis der Goldenen Palme belohnte. Die nicht zu überhörenden „Buh“-Rufe und Pfiffe der Ablehnung am Abend der Preisverteilung im Palais des Festivals, die der massive Fellini zwar mit demonstrativem Lachen und energischen Handbewegungen wegzuwischen suchte, stammten sicher aus dem gleichen Gedankenkreis, der auch vor allem die französischen Kritiker bewogen hatte, diesem mit skandalumwitterten Vorschußlorbeeren belasteten Film ihre Anerkennung zu Versagen. Sicher will Fellini eine große Attacke gegen die Dekadenz des Menschen von heute und des Menschen im allgemeinen reiten. Aber die Aufgabe wächst ihm über den Kopf, und wer zuviel beweisen will, beweist schließlich gar nichts. Und wenn man dann überdies in Cannes sah, daß er sich samt Gattin Giulietta Massina auf einer für ihn inszenierten exklusiven- Party recht gut unterhielt, bei der in vorgerückter Stunde die „Damen“ der Gesellschaft mit ähnlichem Exhibitionismus, wie er ihn in seinem Film anprangert, im Wasser des Schwimmbassins plantschten, dann können einem leicht Zweifel an der inneren Aufrichtigkeit seines Films kommen.

Auch der zweite italienische Beitrag. „Abenteuer“, aus der Hand des Regisseurs Michelangelo Antonioni, gefiel sich in einer ermüdenden Wiedergabe von Liebesverhältnissen, wobei das unaufgeklärte Verschwinden eines jungen Mädchens das handlungsarme Geschehen noch mehr belastete und zerdehnte. Dieser Film wird den Zuschauern, je nach ihrer Einstellung, höchstens durch die wohl längste über die Leinwand gelaufene Kußszene oder durch einige äußerst eindrucksvoll photographierte Passagen im Gedächtnis bleiben.

Daß dieser Streifen ebenso wie der einzige japanische Film „Seltsame Besessenheit“ von Kon Ichikawa. der sich mit dem Problem der Impotenz eines alternden Mannes auseinanderzusetzen sucht, von der Jury mit einem Preis bedacht wurde, scheint für den eingangs erwähnten Grundtenor dieses Festivals symptomatisch.

VON DER „NEUEN WELLE“, die im Vorjahr hier mit großem Eklat in Szene gesetzt wurde, war heuer entlang der von amerikanischen Straßenkreuzern und sensationshungrigem Publikum bevölkerten Croisette nicht mehr viel die Rede. Lediglich das letzte Werk des verstorbenen Jacques Becker, „Le trou“ (Das Loch), offenbarte etwas von der harten Realität, mit der diese gar nicht so neue Filmschule ihre AnhäSger, aber auch den unbefangenen Zuschauer zu packen sucht. Mit einer beinahe bis in den Zeitablauf gehenden Genauigkeit und Detailmalerei läßt uns dieser von interessanten Bildkompositionen erfüllte Streifen an dem Ausbruchsversuch von sechs Häftlingen aus dem 'Pariser Zuchthaus teilhaben. Wir erleben mit den Eingekerkerten wirklich fiebernd die bangen Minuten einer möglichen Entdeckung ihres durch monatelange Grabungsarbeiten ausgehöhlten Weges in die Freiheit durch die Gefangenenwärter. Die Plastik dieses Films, der sich eigentlich nur zwischen der Gefangenenzelle und dem

Grabungsplatz an der unterirdischen Gefängnismauer abspielt, ist so überzeugend und eindringlich, daß man zuweilen den dumpfen Geruch der auf engem Raum zusammengepferchten Häftlinge zu spüren vermeint. Erstaunlich auch die schauspielerische Intensität der einzelnen Gefangenen, die bis auf einen zum erstenmal vor der Kamera gestanden sind. Vertreter, Versicherungsangestellter, Beamter: das waren die Berufe dieser von Becker mit meisterlicher Hand geführten Männer. Aber auch hier wieder die thematische Beschäftigung mit Existenzen außerhalb der normalen Ordnung.

DIE ÜBRIGEN VERTRETER DER „NOU-VELLE VAGUE“, wie Jacques Truffaut oder Claude Chabrol, lockten außerhalb des Festivals die Filmästheten mit ihren neuesten Oeuvres in die Kinos der Rue d'Antibes. Wobei sich die Erkenntnis aufdrängte, daß sie sich überwiegend der geschäftlich lukrativer auszuschrotenden Erotik in der von ihnen propagierten Realitätsverpackung zugewandt haben.

Nachdem die Teilnahme des von den Parteigängern der „nouvelle vague“ mit Spannung erwarteten Films „A bout de souffle“ (Außer Atem) des kaum fünfundzwanzigjährigen Welschschweizers Jean-Luce Godard an den moralischen Bedenken einer bestimmt nicht kleinlichen französischen Auswahlkommission gescheitert war, präsentierte Frankreich außer der schon jetzt in Wien angelaufenen, weniger aufregenden Amerikareportage von Franc;ois Reichenbach das filmische Erstlingswerk des bekannten Theaterregisseurs Peter Brook unter dem Titel „Moderato Cantabile“ mit Jeanne Moreau und Jean Paul Belmondo in den Hauptrollen. Ein in die Gegenwart übertragener ,.Madame-Bovary“-Stoff, den Brook mit sichtlichem Vergnügen für epische Breite zelebriert. Die Liebessehnsüchte und Komplexe dieser von Reichtum und gesellschaftlicher Position ermüdeten Frau bewegen sich schon hart an der Grenze schizophrener Übersteigerungen. Ein Durchschnittsfranzose, der doch im allgemeinen selbst für etwas abwegige Diskussionen zum Thema „Liebe“ eher zu interessieren ist als zum Beispiel ein Nordländer, meinte nach Besuch dieser Vorstellung: „Wenn die etwas zu arbeiten hätte, dann würden ihr die hysterischen Flausen schon vergehen.“ Da wurde für einen Augenblick der Abgrund sichtbar, in den all die intellektuell überzüchteten Demonstrationen von zeitgenössischer Dekadenz geraten können.

IN DIAMETRALEM GEGENSATZ zu diesem Überangebot an sozialer und charakterlicher Fäulnis stellte sich der diesmal keineswegs mit Holzhammerpropaganda durchsetzte sowjetische Film „Die Ballade vom Soldaten“ des begabten Regisseurs Grigori Tschukrai. Eine menschlich und filmisch saubere Erzählung, die trotz aller trüber Realität der Kriegstage auch den positiven Seiten des Daseins nachzuspüren sucht.

Noch ansprechender in seiner natürlichunprätentiösen Art war der ausgezeichnete englische Film „Sons and Lovers“ nach der berühmten gleichnamigen Novelle von D. H. Lawrence. Die überzeugende Charakterisierungskunst von Trevor Howard sowie einer Mary Ure und der jungen Hether Sears fanden sich hier mit dem einfühlsamen regielichen Können des mit photographischer Wirkung vertrauten Regisseurs Jack Cardiff und einer lebensvollen Drehbuchunterlage zu einer schönen geschlossenen künstlerischen Leistung zusammen.

Ein Attribut, das sich auch der jüngsten Schöpfung, „Die Quelle“, des bedeutenden nordischen Filmmystikers Ingmar Bergman trotz einer zuweilen bis an die Grenze ides Erträglichen reichenden Brutalität nicht absprechen läßt. Über Vergewaltigung und dessen blutige Sühne nach einer mittelalterlichen Erzählung aus den unergründlichen Wäldern Schwedens stößt der von innerer Religiosität erfüllte Schwede bis in die Regionen der Frage nach Gottes Gerechtigkeit vor. Bei ihm geschieht das alles aber nicht aus billiger Effekthascherei oder gar als Versuch zur Aufpeitschung der niederen menschlichen Instinkte. Und bei aller krassen Grausamkeit, die sich in dem Film offenbart, bleibt einem das Gefühl, wirklichen Menschen in ihren Nöten gegenübergestanden zu sein.

Von subtiler Art und doch erfüllt von innerer Spannung ist auch der preisgekrönte französische Kurzfilm „Le sourire“ (Das Lachen), in dem Serge Bourgignon kleine Momente aus dem Leben einer blutjungen Novizin des Buddhismus festgehalten hat.

Es ist ein Lachen, geboren aus kindlicher Freude am Schönen und Natürlichen, und zugleich ein Lachen auf den obersten \ Stufen menschlicher Gelöstheit und Ausgeglichenheit.

EIN LACHEN FREILICH, das einem beim Anblick der Mehrzahl der Festivalfilme nicht vergönnt war. Denn wollte man sich deren Maxime und verklemmte Seelendeutungen zu eigen machen, so müßte man eigentlich an der Menschheit verzweifeln und am Film, der sich diesmal besonders stark zum liebedienerischen Mittler des Dekadenten und Brutalen zu machen schien. Da wir aber gewiß sind, daß auch dies nur eine „vague“, eine Woge augenblicklicher Ratlosigkeit und Gedankenuniformität ist, soll es uns nicht allzusehr erschüttern.

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