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Kunstschau oder Filmmesse?

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Filmfestspiele entwachsen ihren Schöpfern und Lenkern und erhalten ihre eigenen Entwicklungsgesetze. Das erweist sich am Beispiel Venedigs. Gegründet wurde die venezianische Mostra 1932, um den Film in den Bereich der Kunst, der die Biennale gewidmet war, einzubeziehen. Der vor zwei Jahren zurückgetretene Direktor der Filmkunstausstellung, Antonio Petrucci, kämpfte schon verzweifelt gegen die Bestrebungen, die Filmschau zu einer großen Filmmesse zu machen und mühte sich um einen Primat der Filmkunst. Dieses Jahr verkündete der neue Leiter Dr. Ottavio Croze, daß Venedig die Zahl der Filme beschränken und in der Qualität anspruchsvoller werden würde. Es wolle wieder eine Stätte der Filmkunst werden. Was aber geschah? Es gab mehr Filme als je, in und außer Konkurrenz. Und sie waren mittelmäßiger als je. kaum eine wirklich festspielreife, preiswürdige Leistung.

Die Preisrichter würden dagegen vielleicht Einwände machen. Sie würden sagen, es gab einen neuen Film von Dreyer (dem Pionier des Jean-d'Arc-Films), den religiösen Film „Das Wort“ nach dem Stück von Kaj Münk (übrigens eine Doppelverfilmung), dem sie sogar den „Goldenen Löwen“ zuerkannten. Es gab „Des Teufels General“ mit Curd Jürgens, in dem dieser seine vielleicht bisher beste Rolle spielt, und den französischen Film „Die Helden sind müde“, wo Jürgens dieser Rolle sozusagen eine Fortsetzung nach dem Kriege gab und sich damit als bester Schauspieler der Mostra legitimierte. Es gab ein geschickt vorexerziertes Broadway-Stück „The big Knife“ mit einem guten Anteil Hollywood-Kritik und Rattigans „Die blaue Tiefe“ mit Vivian Leigh. Es gab Jugendthemen, wie Italiens rührselige „Dicke Freunde“ („Amici per la Pella“), die den großen Preis der OCIC davontrugen, und Staudtes unter holländischer Flagge gestarteten Film „Ciske, die Ratte“ — er erscheint in Deutschland unter dem Titel „Ein Kind braucht Liebe“, die Geschichte eines verwahrlosten Jungen, der sich wieder in die menschliche Gesellschaft eingliedert, er erhielt einen „Silbernen Löwen“ und eine ehrenvolle Erwähnung der OCIC. Es gab die Russen mit ihrer Oper „Boris Godunow“ und ihrem Film „Die Grille“, beide in ebenso wunderschönen Farben wie der Beitrag der Japaner, und es gab Delanoys ehrlichen und skeptischen Jugendfilm „Chiens perdus Sans Colliers“ über das Problem der verwahrlosten Jugend — „man kann es stellen, aber man kann es nicht lösen“, sagte der Regisseur in einem Gespräch.

Aber nicht einer der Filme, die in der diesjährigen Konkurrenz in Venedig gezeigt wurden, wird in die Filmgeschichte eingehen, und die schärfsten Diskussionen erweckten zwei Filmstreifen, die nicht gezeigt wurden. Den einen, nach dem Christuswort an Petrus „Wenn der Hahn kräht“ betitelt, wies die Auswahlkommission der Biennale den Spaniern zurück, weil er die Pricsterverfolgung der Oststaaten zu seinein Thema nimmt, und versuchte diese Zurückweisung zuerst verschämt mit einem verspäteten Einlangen der Kopie zu begründen. Erst als der spanische Delegierte daraufhin Spaniens Beteiligung absagte, wurde der wahre Grund offenbar. Den andern hatte hingegen die Biennale selbst eingeladen, aus künstlerischen Gründen. Aber die amerikanische Botschafterin in Rom, Ciaire Boothe-Luce, protestierte gegen den Film „Black Jungle“ („Die Saat der Gewalt“) und veranlaßte Dr. Croze, den Film abzusetzen. Der dritte Film, der nicht zugelassen wurde, war der tschechische Hus-Film.

Hingegen konnte man mehr Filme außer Konkurrenz sehen als in den offiziellen Vorführungen. Die Leute, die vor zwei Jahren „The little Fugitive“ in Venedig gezeigt hatten, brachten dieses Jahr die Weltprcmiere ihres neuen Filmes „Lovers und Lolli-pops“ („Liebhaber und Zuckerwerk“) außer Konkurrenz, die Franzosen zeigten Sartres „Hius clos“ und den Kommerzstreifen „Frou-Frou“, die Ostdeutschen den „Untertan“, die Westdeutschen „Hotel Adlon“ und den „20. Juli“, die Oesterreicher den auf der Kulturfilmschau mit einer Silberschale ausgezeichneten Film Quendlers „Omaru, eine afrikanische Liebesgeschichte“ und den Mozart-Film „Don Juan“. Man kann die Liste reichlich fortsetzen, die beweist, daß es gar nicht mehr um Preise oder eine Auswahl geht, die die Mostra trifft, sondern um eine Schau, bei der, wie bei einer großen Messe, jeder um die größtmöglichste Beachtung ringt. Wobei es gar nicht mehr um den künstlerischen Wert geht.

Denn nicht nur der Charakter der Filme, auch das Publikum von Venedig schichtet sich um. Für den Kritiker, der der Filmkunst nachspürte, hat sich die Reise kaum gelohnt. Die Stars waren dieses Jahr fast selten, wenigstens Stars, die Weltformat besaßen. Für den Beginn der Biennale hatten sich die Italiener Sophia Loren bestellt, die — wie die Amerikaner sagen — dem Dr. Croze bei der Eröffnung „die Schau stahl“, aber die Amerikaner und Engländer brachten nur zweite und dritte Garnitur, auch die Franzosen waren sparsam, und nur die Japaner und die Russen hatten ihre Delegation geschickt mit einigen sympathischen Schauspielerinnen ausgestattet.

Aber die Funktionäre der Verbände, die Filmpolitiker und die Wirtschaftler waren so zahlreich vertreten, daß ein Berichterstatter von einem Festival der Botschafter schreiben konnte. Die Leiter der Exportinstitutionen mit ihren Stäben waren da, Filmproduzenten und Filmverleiher füllten die Hotels fast zahlreicher als die 480 Journalisten, die zur Hälfte aus Italien, zur Hälfte aus der übrigen Welt zusammengekommen waren, und Venedig als Filmumschlagplatz dürfte in diesem Jahr den künstlerischen Ertrag der Mostra weit überboten haben.

Es gab — sozusagen als Tribut an die Filmwissenschaft — im ersten Teil der Mostra eine amerikanische Retrospektive mit so großen Seltenheiten wie Griffiths „Einsame Villa“, es gab eine Schau von Filmen japanischer Filmregisseure. Aber das blieben Ereignisse am Rande. Wissenschaft und Kunst waren an den Rand gedrängt und die Mostra selbst stellte in ihrer täglich erscheinenden Zeitung „Cinemundus“ eine Tabelle zusammen, in der nachgewiesen wurde, daß die auf der Mostra seit 1946 prämiierten italienischen Filme — nur für diese verfügt sie über Einnahmezahlen — auch gute Kassenergebnisse in Italien hatten, offenbar weil man ihr den Vorwurf gemacht hatte, daß Filmkunstwerke nicht Filme des guten Geschäftes seien.

Filmkunstschau oder Filmmesse? Die in diesem Jahre deutlich gewordene Entwicklung weist Venedig deutlich nach der kommerziellen Seite hin. Sie dürfte noch verstärkt werden, wenn dem Vorschlag des internationalen Produzentenverbandes, jährlich zwischen Cannes und Venedig zu alternieren, nicht Rechnung getragen wird. Und dazu scheint weder Cannes noch Venedig bereit zu sein. Dr. Croze schlug vor, die Auswahl in den beiden Zentren auf jene Filme zu beschränken, die in den letzten sechs Monaten vor Beginn der Festspiele fertig geworden seien. Es kann ihm nicht unklar sein, daß dadurch die Auswahl noch zufälliger, noch ferner einer echten Ueberschau über die Produktion eines größeren Zeitraumes wird, aus der eine Filmkunstausstellung, die ihrer Aufgabe gerecht wird, die Werke von bleibendem Wert herausheben sollte. Sie wird dann einfach zu einer Messe der neuesten Filme werden, einem Treffpunkt der Käufer und Verkäufer. Die Aufgabe der Kritiker liegt dann ganz am Rande und es ist dann folgerichtig, daß Hollywood bereits heuer durch seine Klatschtante Elsa Maxwell vertreten war. die sicher reichlichen Stoff gefunden haben wird.

Filmumschlagplatz zu sein, ist sicher auch eine Aufgabe, der für die Filmwirtschaft eine beachtliche Bedeutung zukommen mag. Die kulturelle Aufgabe aber, welche die Gründer 1932 diesem jüngsten Zweig der Kunstausstellung als eine „Mostra d'Arte Cinematografica“ gestellt haben, ist dann endgültig begraben. Aber vielleicht ist auch diese Dreiteilung: hie Kunstschau — hie Messe — hie Publikumsfestiva! als Aufgabenbegrenzung zwischen den drei Rivalen Cannes, Venedig und Berlin eine Lösung, die sich aus der Entwicklung heraus anbietet.

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