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VENEDIG 1968

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SOLLTE DIE DIESJÄHRIGE Filmkunstschau von Venedig wirklich die letzte gewesen sein, die in dem pompös, aber unpraktisch gebauten Palazzo del Cinema am Lido einen Überblick über das gegenwärtige Filmschaffen — wie kein zweites, anderes Filmfestival es fertigbrachte — gegeben hat? Nach den Ereignissen, die schon zu Beginn dieses für den Weltfilm einen ungeheuren Rückschlag bedeutenden Jahres 1968 mit dem Abbruch der Cannes-Filmfestspiele, des notdürftigen Fortlaufens der Berlinale und der Zerstörungen vieler kleiner Festivals begonnen hatten, und in dem systematischen Versuch, auch die älteste Filmkonkurrenz ein für allemal zu vernichten, ist dies fast zu befürchten. Wahrhaft zu „befürchten“ — denn wenn auch jeder ernsthafte Filminteressierte das Überhandnehmen an allen Orten statt findender, dabei selbstverständlich völlig unnötiger und sinnloser Filmwochen verurteilt, so besitzt doch Venedig wie keine zweite Stadt der Welt das Recht auf diese Veranstaltung! Nicht allein, daß in Venedig bereits seit 1932 solche Filmkunstvergleichswettbewerbe stattfinden — der Tatbestand einer „historischen Institution“ allein rechtfertigt diese nicht —, hat sich die Filmkunstschau am Lido auch als die künstlerisch bedeutsamste, als die im besten Sinne „internationale“ und als die allen neuen Stilformen des Films aufgeschlossenste gezeigt; vor dem Krieg war bereits sowohl der Westen als auch der Osten mit seinen wichtigsten Werken der Kinematographie vertreten, nach dem Krieg war Venedig ebenso Wegbereiter des Neoverismo wie Platzmacher für die „nouvelle vague" — und in den letzten Jahren konnte man hier die Wandlung des internationalen Films zum „cinema nuovo“, zum „neuen" Film studieren.

Dieses wahrhaft bedeutsame Filmfestival, von — möglicherweise sogar wirklich „idealistisch" denkenden, doch programmlosen Wirrköpfen nicht nur behindert, sondern ernsthaft gestört, sollte zum letztenmal stattgefunden haben? Das ist weder zu hoffen noch zu glauben; erst recht nicht, als in der letzten Woche das vorgesehene Programm (nach sanfter, aber energischer Entfernung der Störenfriede) dann doch noch reibungslos abgewickelt werden konnte. „Gegen was wurde eigentlich protestiert?“ war die erstaunte und ratlose Frage j fa-sl sämtlicher ausländischer. Fümkritiken pnd -jowrialisten T am Ende der venezianischen Mostra. Qegen eine geraffgzy.

-•einmalig zu nennende Vorstellung von Werken des „modernen Films“, eben jenes Ausdruckes der modernen Filmgestaltung, dessen „freie Entfaltungsmöglichkeit" die Demonstrierenden lautstark forderten? Daß neben den etwa die Hälfte der vorgeführten 25 Filme ausmachenden Schöpfungen des „cinema nuovo“ (behalten wir diesen Begriff als den passendst erscheinenden für die modernen Strömungen der Filmproduktion unserer Gegenwart bei — denn das Wort „jung" wird schon allzusehr und oft allzu fälschlich mißbraucht!) auch das bisherige, dagegen „konservativ" erscheinende Schaffen gezeigt wurde, ja werden mußte — sonst wäre die venezianische Filmkunstschau weder international noch zeitgültig, aktuell zu bezeichnen —, erscheint doch wohl jedem denkenden Menschen als selbstverständlich, vernünftig, berechtigt

HIER IN VENEDIG war wahrhaft der Film des Jahres 1968 vertreten, in allen Erscheinungsformen: vom kommerziellen, doch thematisch modernen Hollywood-Produkt („Wild in the Streets“ von Barry Shears) bis zum nihilistischexzessiven Experiment („Nostra Signora dei Turchi“ von Carmelo Bene), von der psychiatrisch-wissenschaftlichen Studie („Diario di una schizofrenica“ von Nelo Risi) bis zur intellektuell-berechtigten Zeitkritik („Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ von Alexander Kluge), vom neoveristi- schen Dokumentarismus („Fuoco“ von Gian Vittorio Baldi) bis zur historisch-zeitbezogenen Biographie („Galileo“ von Liliana Cavana), vom fernsehgemäßen aktuellen Bericht („Monterey Pop“ von D. A. Pennebaker) bis zur Romanverfilmung („Das Schloß“ von Rudolf Noelte), von folkloregetragenem symbolistischen Widerstand gegen die Gewalt („Zbehove“ von Juro Jakubisko) bis zur politischen Diskussion („Teil me Lies“ von Peter Brook), vom psychologischen Ehedrama („Stress es tres tres“ von Carlos Saura) bis zur phantastischen Satire („L' ėcume des jours“ von Charles Belmont), vom hintergründig erschreckenden Thriller („Kierion“ von Demostene Theos) bis zur pseudo-realistischen Kolportage („Summit“), von der Problematik schwererziehbarer Jugendlicher („L'enfance nue“ von Maurice Pialat) bis zur wochenschauähnlich nüchternen Lebens- und Situationsschilderung („Faces“ von John Cassavetes), von der Präsentation des amerikanischen „Underground-Cinema“ („Me and my Brother“ von Robert Frank) bis zur psychodelisch-dämoni- schen Groteske („Partner“ von Bernardo Bertolucci), vom guten, alten Publikumsfilm („Balladae pour un chien“ von Gerard Vergez) bis zum Versuch eines Vorstoßes in den Bereich der Seele („Wheel of Ashes“ von Peter Emmanuel Goldman), von philosophischem Bewußtseinserwachen („Le Socrate“ von Robert Lapoujade) bis zum leidenschaftlichen Bekenntnis zur Erlösung („Teorema“ von Pier Paolo Pasolini) — welches zweite Filmfestival hat und hatte eine solch vielfältig schillernde und so umfassend zeitbezogene Palette aller Themen und Stilmöglichkeiten des Filmes 1968 aufzuweisen?

DAS FILMFESTIVAL VON VENEDIG zerstören zu wollen, ist nur ein Herostratos-Akt von törichten Ehrgeizlingen, die wohl zu vernichten verstehen, aber nichts Besseres anstelle des Bewährten aufzubauen wissen. Es ist der Beginn eines Chaos, das nicht nur auf dem Gebiet des Films, sondern allenthalben droht

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