Judith Kohlenberger: „Corona ist eine Wunde, die sich weiter öffnet“
Im Wir-Konzert werden heute viel mehr Stimmen als früher laut, sagt die Kulturwissenschafterin Judith Kohlenberger – und ermutigt, die Potenziale eines größeren Miteinanders zu nützen.
Im Wir-Konzert werden heute viel mehr Stimmen als früher laut, sagt die Kulturwissenschafterin Judith Kohlenberger – und ermutigt, die Potenziale eines größeren Miteinanders zu nützen.
Judith Kohlenberger lehrt und forscht über Migration an der Wirtschaftsuniversität Wien. Corona-Demos gehören für sie genauso als Integrationsthema diskutiert, da hier der Gesellschaft Menschen verlorengehen, die wieder zurückgeholt werden müssen.
DIE FURCHE: Frau Kohlenberger, „Wir wissen, was wir sind, aber wir wissen nicht, was wir sein könnten“ – Sie haben dieses Zitat aus „Hamlet“ an den Anfang Ihres neuen Buches „Wir“ gestellt. Warum?
Judith Kohlenberger: Das Zitat zeigt für mich auf, was das Wir noch alles sein kann. Ganz viel Potenzial eines größeren Wirs wird liegengelassen, von dem wir alle profitieren würden. Ausgrenzung schadet nicht nur den Ausgegrenzten, sondern allen. Das Zitat bringt für mich zum Ausdruck, dass wir uns trauen sollen, dieses Wir-Potenzial auszuschöpfen.
DIE FURCHE: Insofern ist Ihr Buch auch ein Mutbuch – Sie haben es im ersten Lockdown vor einem Jahr zu schreiben begonnen …
Kohlenberger: … die Idee gabʼs schon davor. Doch dann kam die Pandemie, und da hat sich vieles an diesem Thema verdichtet. Im ersten Lockdown gab es viele Appelle an die Solidarität. Da war auch spürbar, wie emotionalisierend und politisch instrumentalisierbar das Wir ist. Ab dem Sommer wurde eine „Wir und die anderen“- Rhetorik deutlich: Zum Beispiel wenn gesagt wurde, die Balkanheimkehrer brächten das Virus zurück ins Land. Da gab es kein gemeinsames Wir, sondern klare Ausgrenzungstendenzen. In der Kulturwissenschaft bezeichnen wir dieses Fremd- und Andersmachen als „Othering“. Besonders in einer Krise ist das gefährlich.
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