7024504-1989_06_10.jpg
Digital In Arbeit

Wehrlos ausgeliefert

Werbung
Werbung
Werbung

Viele religiöse und philosophische Betrachtungen haben sich mit dem Wunder des Lebens und dessen hierarchischer Ordnung auseinandergesetzt, aber auch ebenso viele unterschiedliche Antworten bezüglich dieser Beziehungen gefunden. Zweifellos kann nicht eine einfache Kosten- Nutzen-Rechnung dem tierischen Leben gerecht werden, es bedarf einer umso empfindsameren ethischen Verantwortung des Menschen, je stärker das Tier in indirekte oder direkte Abhängigkeit gerät. Diese Forderung führt dann zum Konflikt, wenn die Verantwortung gegenüber dem Menschen in Kollision mit der gegenüber dem Tier als vorrangig bewertet werden muß.

Biologen und Verhaltensforscher haben die Gefahren der fortschreitenden Umweltschädi-

gung u’. Ū Existenzbedrohung wildlebender Tierarten erkannt und die Bedeutung des Tieres in der Natur bewußt gemacht. Weiter haben Industrialisierung und Verstädterung zu einer Naturentfremdung des Menschen beigetragen, da viele natürliche Lebensabläufe nicht mehr direkt wahrgenommen werden können. So wird der Beutefang eines Raubtieres als ungewöhnlich und grausam angesehen, besonders, wenn ihm emotionell höher eingestufte Tiere zum Opfer fallen. Andererseits hat die veränderte Lebensweise des Menschen die Funktion des „nützlichen“ Haustieres hin zu der des vertrauten Kontakt- und Streicheltieres verschoben.

Diese Bindung fördert eine „menschenähnliche“ Interpretation tierischer Verhaltensweisen und wird auch durch eine veränderte Tier-Mensch-Beziehung bestärkt, die aufgrund der Einzelhaltung des Tieres bis zu einer Ablehnung des natürlichen Kontaktverhaltens mit tierischen Artgenossen reichen kann. Als positive Erscheinung ist sicher die erhöhte Sensibilität gegen das Leiden von Tieren zu werten, gleichzeitig können jedoch massive Aversionen gegen störende Einzeltiere oder Probleme durch übergroße Populationen mancher Arten hervorgerufen werden.

Alle Formen der Nutzung von Tieren können daher vielfältig hinterfragt werden, wobei sicher nicht jede Handlung aus vordergründiger Tierliebe tatsächlich allen Tieren zugute kommt. Ein eigener Industriezweig übernimmt die Fleischproduktion und verarbeitet kundenfreundlich die benötigten Schlachttiere. Selbst die Fütterung fleischfressender Heimtiere ist heute für den Besitzer nicht mehr mit der blutigen Schlachtung eines anderen Tieres verbunden, sondern erfolgt aus portionsgerechten Dosen, so daß auch hier scheinbar kein Konflikt entsteht.

Das Ausmaß dieser Tierhaltung ist zu erfassen, wenn man bedenkt, daß die Rinderhaltung in Österreich gerade ausreichen würde, den Jahres-Futterbedarf der Hunde in der Bundesrepublik Deutschland zu decken. Kundenwünsche machen es anscheinend auch erforderlich, durch fragwürdige Zuchtauslesen und „veterinärmedizinische“ Hilfen die Tiere modisch anzupassen und noch handgerechter zu formen. Die Kastration einer weiblichen Katze wird zur „Sterilisation“ verniedlicht, da ein in der Wohnung allein gehaltenes und zur Fortpflanzung bereites Tier in den Augen seines Besitzers leidet. Da Bedürfnis des Tieres und Wunsch des Besitzers nicht übereinstimmen, wird ohne Bedenken mittels Tabletten oder Operation Abhilfe geschaffen.

Die unfreiwillige Abhängigkeit der Tiere vom Menschen, welchem Zweck immer die Haltung dienen mag, legt diesem jedoch ethische Verpflichtungen auf, die besondere Bedeutung erhalten, wenn dem Tier bewußt Belastungen zugemutet werden. Somit steht zweifellos der Tierversuch im Mittelpunkt des Konfliktes zwischen menschlicher Verant- wortbarkeit und ethischer Verpflichtung gegenüber dem Tier. Die Diskussion über diese Problematik erhält einen zusätzlichen Aspekt, da sowohl der Experimentator als auch das Versuchstier eine Stellvertreterfunktion einnehmen: Die mit Tierversuchen befaßten Wissenschaftler und ihre Mitarbeiter führen im Namen der Gesellschaft notwendige Forschungsaufgaben und Untersuchungen durch, deren Ergebnisse und Erkenntnisse letztendlich Mensch, Tier und Umwelt nützen sollen; dem Versuchstier werden hingegen induzierte Belastungen auferlegt, um so bei Mensch und Tier Krankheiten zu erkennen, vorzubeugen, zu heilen oder Umweltgefährdungen zu vermeiden. Aus diesen Gründen müssen behindernde Aktivitäten von radikalen Tierversuchsgegnern nachdrücklich zurückgewie-

sen werden, solange diese Personengruppe nicht in der La|e ist, eine Verantwortung für die entstehenden gesundheitspolitischen Folgen zu übernehmen.

Unsere Gesellschaft hat diese allgemeine Problematik durch verschiedene Gesetze zum Tier- und Artenschutz erfaßt und spezielle Richtlinien für Haltungsbedingungen, Tiertransporte, Bekämpfung von Tierseuchen und so fort erstellt. Gegenstand des Tierversuchsgesetzes ist es daher, Versuche an lebenden Tieren einer Regelung zu unterwerfen, eine ethische Verantwortung wird jedoch vom Gesetzgeber nur bedingt übernommen. Gleichzeitig sind in vielen Bereichen Tierversuche gesetzlich verankert, für deren Notwendigkeit und Durchführung der Gesetzgeber selbst die ethische Verantwortung übernehmen muß. Im Gegensatz dazu liegt diese bpi wissenschaftlichen Fragestellungen beim Experimentator und seinen Mitarbeitern und kann nur teilweise von den Bewilligungsbehörden und kontrollierenden Kommissionen mitgetragen werden.

Der Arbeitskreis universitärer und industrieller Forschungsinstitute in Österreich, die sich mit Tierversuchen beschäftigen, hat daher im März 1987 ethische Richtlinien für Tierversuche erarbeitet und in seinem Bereich als gültig anerkannt.

Der Autor ist Veterinärmediziner und Universitätsprofessor für experimentelle Chirurgie an der medizinischen Fakultät der Universität Wien und leitet die experimentelle Abteilung der 2. Chirurgischen Universitätsklinik.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung