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Kurt Remeles Tierethik: Zwischen Ideal und Wirklichkeit

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Der Sozialethiker Kurt Remele setzt sich für umfassende Achtung der Tier-Würde ein. Seine diesbezügliche Unbedingtheit ist nicht unumstritten.

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Der Sozialethiker Kurt Remele setzt sich für umfassende Achtung der Tier-Würde ein. Seine diesbezügliche Unbedingtheit ist nicht unumstritten.

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Wiener Neustädter Tierschützerprozess 2011/12: Alle Angeklagten wurden freigesprochen. Und das, nachdem eine Sonderkommission der Polizei - mit Beamten aus den Abteilungen Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung -zwei Jahre gegen die Tierschutzaktivisten ermittelt hatte. Mitglieder des "Vereins gegen Tierfabriken" hatten schrill gegen Pelzträger und Hühnerfarmen protestiert und damit an einem stillschweigenden Konsens der Gesellschaft gerüttelt: dass Lebewesen den rechtlichen Status einer Sache haben und vorteilsbringend nutzbar sind. Man warf den Tierschützern die Bildung einer kriminellen Vereinigung vor, aber konnte keine Beweise dafür finden. Denn sie hatten nicht gegen Gesetze verstoßen, sondern grundlegende ethische Fragen des Umgangs mit dem Lebendigen gestellt.

Wider die anthropozentrische Sicht auf Tiere

Das Verhalten gegenüber Tieren ist eine Art Lackmustest für den Umgang mit Lebendigem. Hunde, Hamster & Co. gelten als Maskottchen, doch Tierschutzhäuser sind voll von "weggeworfenen" Haustieren. Nutztiere werden auf maximale Effizienz hin gezüchtet, z. B. können Turbokühe kein Gras mehr fressen, sondern nur Silomais und synthetisches Eiweiß und geben bis zu 30 Liter pro Tag, statt der acht Liter einer "Normalkuh". Hähnchen werden zermahlen, weil sie für den Konsum nicht verwertbar sind. Der "Verbrauch" von Mäusen und Ratten als Labortieren für Medikamententests steigt. Durch Straßenbau werden die Lebensräume von Wildtieren eingeschränkt und zerstört. Jede dritte Tier-und Pflanzenart in Mitteleuropa ist vom Aussterben bedroht. Hauptgrund: die industrielle Nutzung von Ackerböden. In Teilen Chinas sind die Bienen durch Pestizideinsatz ausgestorben. In Österreich wird täglich Natur in der Größe von 28 Fußballfeldern zubetoniert usw. Das alles ist nicht neu: bereits 1962 hatte die Autorin Rachel Carson vor dem "Stummen Frühling" als Folge von DDT und Umweltgiften gewarnt. Und selbst die Fische in den Tiefen der Ozeane leiden unter den Plastikresten der Industriekultur.

Das Verhalten der Menschen zur Schöpfung, zur Welt, in der sie leben und von deren Wohlbefinden sie abhängen, ist selbstmörderisch, konstatiert Papst Franziskus in seiner Enzyklika "Laudato si". Dass viele meinen, es sei alles nicht so schlimm, ist eine ausweichende Haltung, die dazu dient, "unseren Lebensstil und unsere Produktionsund Konsumgewohnheiten beizubehalten", schreibt der Papst.

Die Natur ist nicht nur zum Nutzen des Menschen da, sondern hat Eigenrechte. Das entspricht dem biblischen Verständnis der Schöpfung. Denn der Auftrag an die Menschen heißt nicht "beutet die Natur aus und unterwerft sie", sondern "hütet und pflegt" sie (Gen 1,28). An vielen Stellen der Hebräischen Bibel wird die Verantwortung für die Tiere - Esel, Ochsen, kleine Vögel - betont. Die Bibel, so Papst Franziskus, gibt keinen Anlass für einen "despotischen Anthropozentrismus". Doch der war der Motor für den industriellen Fortschritt.

Immer mehr Menschen stört heute die nutzenorientierte Ausbeutung und Zerstörung des Lebendigen. Aus Protest gegen die Behandlung der Tiere werden nicht wenige Vegetarier, und manche verweigern als Vegane überhaupt tierische Produkte in jeder Form. Einer von ihnen ist Kurt Remele, Professor für Ethik und Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Graz. Mit seinem eben erschienenen Buch "Die Würde des Tieres ist unantastbar" legt er eine neue christliche Tierethik vor und hinterfragt kritisch die anthropozentrische Sicht auf Tiere.

In einer umfangreichen Bilanz bietet Remele eine Sammlung von Plus- und Minusposten im historischen Verhältnis von Christen zur Schöpfung am Beispiel der Tiere. Allerdings dominieren die Minusposten. Denn die Frage des kanadischen Moraltheologen John Berkman: "Ist eine konsistente Ethik des Lebens konsistent, ohne dass die Tiere mit berücksichtigt werden?", wird von Theologen selten gestellt, geschweige denn beantwortet.

Auch unter Theologen kontrovers diskutiert

Zumeist, so Remele, wird den Tieren zwar zugestanden, Mitgeschöpfe zu sein. Doch wenn Tiere Mitgeschöpfe sind, mit eigener Würde und eigenen Rechten, stellt sich die Frage: dürfen Christen Fleisch essen? Oder sollten Christen Vegetarier, besser noch Veganer werden? Ist Fleischkonsum aus christlicher Perspektive ethisch zu rechtfertigen? Moraltheologen sind da höchst unterschiedlicher Meinung. Der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff sieht Tiere als "Weggefährten", doch meint er, der Mensch habe das Recht, Tiere als Teil der natürlichen Nahrungsmittelkette zu sehen. Auch habe er das Recht, sich schmackhaft zu ernähren, und daher sei Fleischgenuss erlaubt. Remele kann dem nichts abgewinnen und sieht darin eine Parallele zur Rechtfertigung sexistischer Gewalt, wonach Männer Frauen als Objekte ihrer Triebbefriedigung sehen dürfen. Der Linzer Moraltheologe Michael Rosenberger plädiert für Mitgefühl mit Tieren, woraus er folgt, man solle den Fleischkonsum einschränken und "wo immer möglich Fleisch aus artgerechter Tierhaltung" essen. Zudem sei das Töten von Tieren ebenso Gewalt wie das Ausreißen von Pflanzen. Das sei "kognitive Dissonanz", kritisiert Remele. Zum seien Tiere schmerzempfindlich, von Pflanzen wisse man es nicht. Rosenberger antwortete darauf gegenüber der Kathpress, wenn die Tötung von Tieren schmerzfrei sei, wie auch im Tierschutzgesetz vorgeschrieben, dann sei die Schmerzempfindlichkeit kein Einwand gegen den Fleischkonsum.

Von der Insuffizienz der Wirklichkeit

Remele plädiert aus Prinzip nicht nur für vegane Ernährung, sondern auch für Schuhe aus Plastik statt Leder. Doch weil der Grad der Vernetzung heute enorm hoch ist, fragt sich, welche Umweltschäden die Plastikerzeugung zur Folge hat, und was am Ende mit dem Plastik geschieht. Die Komplexität der Wirklichkeit und das Ideal gehen nicht zusammen. Der Moraltheologe Wilhelm Korff nennt das "Insuffizienz der Wirklichkeit".

Als Friedensforscher hat sich Remele immer wieder mit dem indischen Ideal von ahimsa (Gewaltfreiheit) befasst. Die Anhänger des Jainismus, einer indischen Religion, etwas älter als der Buddhismus, vertreten eine strikte Auffassung von Gewaltlosigkeit, nach der auch Kleinstlebewesen nicht getötet werden dürfen. Zudem sind sie strenge Vegetarier. Da es aber unvermeidlich ist, Kleinstlebewesen beim Ackerbau zu töten, überlassen sie den Gemüseanbau - und damit die Tötung der Kleinstlebewesen - anderen. Die "Insuffizienz der Wirklichkeit" lässt grüßen.

Die Bibel überbrückt die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit auf ihre Weise. In der biblischen Paradies-Geschichte sind alle Lebewesen, auch die Raubtiere, Pflanzenfresser (Gen 1,29f), und auch am Ende der Zeiten wird es so sein (Jes 11,6-8). Der Bruch kommt mit der Sintflut. Die Menschen haben einen Hang zum Bösen, sagt Gott und erlaubt ihnen, Fleisch zu essen (Gen 8,21 u. 9,4). Doch damit erhalten sie nicht Macht über das Lebendige.

Heute nehmen sich die Menschen das Recht heraus, übers Leben zu herrschen. Das ist der Unterschied. Die Debatte um Tierethik und Vegetarismus ist nur das Symptom dieses Machtanspruchs.

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