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DER „SCHREI" NACH TIERGERECHTER HALTUNG

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In den ietzten 40 Jahren hat sich am Prinzip der Landwirtschaft mehr geändert als in Jahrhunderten zuvor. So haben sich etwa die Flächenerträge verdreifacht - bei sechsfachem Düngemittel- und noch höherem Spritzmittelaufwand. Auch in der Nutztierhaltung haben sich die Leistungen, vervielfacht (Milch- beziehungsweise Eierleistung je Tier verdreifacht).

In der gleichen Zeit ist der Anteil der Erwerbstätigen auf etwa ein Viertel zurückgegangen, was durch eine enorm kostspielige Technisierung ausgeglichen werden mußte. Gemessen am durchschnittlichen Einkommen der Unselbständigen haben sich die Lebensmittel auf ein Drittel bis ein Zehntel verbilligt.

Diese Politik der „billigen Nahrungsmittel" durch Einführung industrieller Produktionsmethoden in der Landwirtschaft (Spezialisierung, Intensivierung und Rationalisierung) hat aber auch gravierende ökologische Schäden verursacht. Der starke Chemieeinsatz (Dünge- und Spritzmittel) hat schwerwiegende Grundwasserbelastungen zur Folge. Die verarmten Fruchtfolgen bis hin zu Monokulturen und der Einsatz überschwerer Traktoren und Maschinen haben zu argen Bodenverdichtungen und großflächigen Abschwemmungen (Erosionen) geführt.

In den intensiv wirtschaftenden, stark spezialisierten Tierhaltungsbetrieben mit hohen Bestandesdichten (Tiere je Stall- beziehungsweise Bodenfläche), aufwendiger Haltungstechnik und maximalen Leistungsanforderungen kommt es zu steigenden Ausfällen, erhöhter Krankheitsanfälligkeit und in der Folge zu vermehrtem Medikamenteneinsatz. Schließlich kann nicht übersehen werden, daß die industriemäßige Landbewirtschaftung auch zu einer gravierenden Deformation (Ausräumung) der in Jahrhunderten gewachsenen Kulturlandschaft geführt hat.

Von den „fortschrittlichen" Käfighühnerhaltern wird übereinstimmend die Ansicht vertreten, das „moderne" Huhn (Hybridhuhn) sei durch die

enorme züchterische Leistungssteigerung auch in anderen Lebensfunktionen derart verändert worden, daß es mit seinen Wildvorfahren, dem freilebenden Bankiva-Huhn, hinsichtlich seiner Verhaltensweisen nichts mehr gemein hätte. Diese Auffassung kommt auch in folgender Expertenfeststellung zum Ausdruck: „Das Hybridhuhn ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Retortenhuhn und gewohnt im Käfig zu leben" (Henk, Wintertagung 1983).

Wir alle wissen jedoch, daß auch das Hybridhuhn aus einem Ei schlüpft, und zahlreiche Wahlversuche haben gezeigt, daß Hühner „freiwillig" nur dann in einen Käfig gehen, wenn es sonst nirgends Futter gibt. Dies entspricht auch einer sinn

vor der Eiablage durch abartige Verhaltensweisen gekennzeichnet, und die Eiablage wird auf über eine Stunde verlängert. Anerkennt man in Übereinstimmung mit Konrad Lorenz das Verhalten der Tiere als ihre „Sprache", so sind die Verhaltensstörungen der Käfighennen ein „Schrei" nach

Abartige Verhaltensstörungen

Im Gegensatz dazu haben nutztier-ethologische Untersuchungen (Ethologie = Verhaltensforschung) gezeigt, daß auch Hybridhühner, trotz mehrfach höherer Legeleistungsveranlagung, alle für das Wildhuhn lebenserhaltenden (essentiellen) Verhaltensweisen zeigen, wenn es die Haltungsbedingungen ermöglichen. Andernfalls kommt es zu Ersatzhandlungen in Form von abartigen Verhaltensweisen (Verhaltensstörungen). Zu den essentiellen Verhaltensweisen von Legehennen zählen:

Scharren bei der Futtersuche, Sandbaden zur Körperpflege, Aufbäumen als Schutzfunktion, Eiablage in ein Nest und Brüten am Ende der Legeperiode zur Arterhaltung et cetera.

Auch das Hybridhuhn legt demnach bei gegebener Wahlmöglichkeit das Ei an einem dunklen, geschützten Ort ab. Dabei braucht es von den ersten Suchbewegungen bis zum Verlassen des Nestes etwa 15 bis 20 Minuten. Bei Käfighennen ist die Zeit

einer tiergerechten Haltungsform (gilt sinngemäß auch für andere Nutztiere). Schließlich wird auch noch öfters die Bibel mit dem bekannten Satz zitiert: „Machet euch die Erde Untertan", um die industriellen Tierhaltungsformen zu rechtfertigen, ohne den Nachsatz: „... auf daß ihr sie pfleget und bewahret" im sinngemäßen Zusammenhang zu sehen.

Eine grundsätzliche Wende vom industrielltechnokratischen Denken und Handeln zu einem ökologisch-ganzheitlichen muß so schnell wie möglich ein gesamtgesellschaftliches Anliegen werden. Dabei hat die Landwirtschaft eine Vorreiterrolle, da ganzheitliches Denken dort noch in einigen Bereichen vorhanden ist, und die Art und Weise, wie die Lebensmittel erzeugt werden, über die Er-

nährung alle Bürger eines Landes direkt betrifft.

Die notwendige Besinnung des Menschen auf seine ethische Verpflichtung zur Obsorge gegenüber seinen ihm anvertrauten Tieren, ins-besonders aber gegenüber den landwirtschaftlichen Nutztieren, muß zur Umkehr im praktischen Handeln auf folgenden Ebenen führen:

Jeder Konsument entscheidet

□ Schaffung gesetzlicher Maßnahmen in Form eines bundeseinheitlichen Tierschutzgesetzes nach Schweizer Vorbild und eines wirksamen Außenhandelsschutzes gegenüber der „Schmutzkonkurrenz" (Kein EG-Beitritt!).

□ Wissenschaft und Forschung dürfen sich nicht länger vorwiegend an technokratisch-ökonomischen Zielvorstellungen orientieren, sondern müssen die artspezifischen Verhaltensweisen der verschiedenen Nutztierarten respektieren (Paradigmenwechsel).

□ Die (Massen-)Tierhalter müssen aufhören, die industriellen Produktionsmethoden zu rechtfertigen und sich um Lösungen bemühen, die den Grundsätzen einer bäuerlich-ökologischen Landbewirtschaftung entsprechen (Bauer statt Tierproduzent). □ Schließlich müssen aber auch die Konsumenten ihren Beitrag leisten, indem sie Lebensmittel aus tiergerechten Haltungssystemen bevorzugen und dafür höhere Preise bezahlen (praktizierte Ethik). Es kommt auf jeden einzelnen an, gleich wo er steht - in der Politik oder Wissenschaft, als Bauer oder Konsument - damit unsere Nutztiere nicht länger nur als lebende Produktionsmittel behandelt werden, sondern als leidensfähige Lebewesen - als Mitgeschöpfe - für die wir als Christen besondere Verantwortung tragen.

Univ. Prof. Dr. Alfred Haiger ist Vorstand des Institutes für Nutztierwissenschaften an der Universität für Bodenkultur in Wien.

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