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Kein Überleben ohne neue Agrarpolitik

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„Erkenntnis und Entscheidung”: Alpbachs Generalthema ist hochaktuell im Agrarbereich. Daher der Ruf nach einer „Magna Charta der Ordnungspolitik” aus Alpbach.

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„Erkenntnis und Entscheidung”: Alpbachs Generalthema ist hochaktuell im Agrarbereich. Daher der Ruf nach einer „Magna Charta der Ordnungspolitik” aus Alpbach.

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Wir sind weltweit jenseits der ausgeglichenen Nutzung der Biosphäre (Umwelt) angelangt. Der biologische Fortbestand vieler Arten ist bereits akut gefährdet. Aber erst wenige nehmen wahr, daß der Mensch durch die Ausplünderung der Biozönose bereits schleichend seine' eigenen Lebensgrundlagen vernichtet.

Unsere Eingriffe in die Natur glichen in der Entwicklungsgeschichte „Nadelstichen”, die rasch verheilten. Nun aber schlagen wir breitflächige Wunden. Die Selbstheilungskraft der Natur reicht nicht mehr aus, um sie zu schließen. Wir überfordern das Ökosystem.

Alte Verhaltensmuster, die sich in der Vergangenheit scheinbar bewährt haben, dürfen nicht mehr weiter angewendet werden, wenn wir nicht schrittweise Selbstvernichtung betreiben wollen. Wir müssen unsere Nutzungsordnungen gesamthaft ändern.

Derzeit sind nur zwei intensive, über Jahrtausende stabile agrarische Nutzungssysteme bekannt. Es sind dies der kleinräumig, in möglichst geschlossenen Stoffkreisläufen intensiv wirtschaftende chinesische Gartenbau und der sich behutsam in das Ökosystem einfügende europäische Ak-kerbau.

Beide Kultursysteme sind durch ein intensives Naheverhältnis des Menschen, des Kulturführers, zu Boden, Pflanze und Tier gekennzeichnet. Während den Großsystemen der Natur der Sache nach die Sensoren für die notwendigen Rückkoppelungen fehlen, ist der Gärtner und Bauer in der Lage, „sein System” gesamthaft zu erkennen und rechtzeitig auf Störungen zu reagieren.

Ein kluger Bauer sagte mir einmal: „Wir alle haben viel gelernt und müssen noch viel lernen, um die Zusammenhänge zu durchleuchten; aber Gott sei Dank wissen wir, wenn wir der Natur mit Liebe begegnen, was wir tun müssen, daß es Boden, Pflanze, Tier und Mensch gutgeht.”

Er hat damit in einfachen Worten das gesagt, was uns die moderne Gehirnphysiologie offengelegt hat: Wir haben eine rechte Gehirnhälfte, die gesamthaft zu erkennen vermag und in Harmonien und vernetzten Systemen „denken” kann. Auf sie in einem geistigen „Linksdrall” — gemeint ist die linke, linear arbeitende Gehirn- 4 hälfte — zu verzichten, muß tödlich sein.

Dies zeigen der Untergang der linear vorgehenden Hochkulturen in Mesopotamien und Nordafrika, die Karstgebiete und die massiven Schäden vor unserer Haustür. Sie zeigen beides:

• Ein die Natur überforderndes Hochpeitschen der Nutzung des Lebensraumes kann geschichtlich nur eine Episode sein.

• Agrarische Großsysteme reagieren in der Regel erst dann, wenn es zu spät ist.

Wir brauchen also das Kleinsystem und den gebildeten Bauern und Gärtner mit einem intensiven, persönlichen Naheverhältnis zu Boden, Pflanze und Tier.

Wir müssen auch in der räumlichen Anordnung und Strukturierung der Nutzungssysteme auf unser genetisches Erbe Rücksicht nehmen, um ökologische und soziale Katastrophen zu verhindern und zum Wohlbefinden der Gesellschaft und der Individuen beizutragen.

Es ist phylogenetisch gesichert, daß der Mensch auf Basis extremer Gehirndifferenzierung ein tagaktiver Kleingruppenjäger und -sammler in strukturiertem Gelände ist. Seine angeborene Bedürfnisstruktur ist auf diese Stellung und Funktion im Ökosystem ausgerichtet. Wenn diese laufend grob mißachtet wird, kommt es zu lebensbedrohenden Fehlhaltungen und Ausbrüchen.

Mangelnde Geborgenheit in der Kleingruppe und im kleinstrukturierten, überschaubaren Gelände bewirken Angst und damit übersteigerte Aggression. Wenn man diese Tatsache verifizieren will, so braucht man nur die gängigen Urlaubsprospekte ansehen oder Kinder fragen, wo sie sich wohl fühlen.

Das Hineinpferchen in starre Großsysteme verletzt die Bereitschaft des Jägers und Sammlers zum plastischen Handeln, das nur überschaubare und flexibel gestaltbare Kleinsysteme bieten können. Die Entladungen der aufgestauten, genetisch fixierten Bereitschaft in Rowdytum, in Terrorismus und selbstvernichtenden Kriegen sind, im Syndrom mit der Angst, logische Folgen.

Die Trennung zwischen Arbeits- und Wohnwelt und das Zusammendrängen in Großsiedlungen und Wohnsilos verletzt das angeborene Bedürfnis nach einem locker strukturierten, gegenüber Dritten abgesicherten, guten Ausblick bietenden Wohnbereich. (Darum bauen die Architekten der Wohnsilos für sich selbst Atriumhäuser mit guter Aussicht in kleinstrukturierter Landschaft.)

Gerade in der Agrarpolitik geht es direkt um den Lebens- und Erholungsraum von uns allen. Wir dürfen uns diesen durch nicht dem Stand der Wissenschaft entsprechende Modelle und Giganto-manien nicht zerstören lassen.

Wenn wir nicht systematische Lebenszerstörung betreiben wollen, müssen wir daher die wesentlichen Systemprinzipien der Biosphäre beachten. An der Ausrichtung des Lebens auf dieser Erde auf die Nutzung der Sonnenenergie, an der für unsere Planungszeiträume unveränderbaren genetischen Information, am Kreislaufprinzip und am Prinzip der kleinen vernetzten Einheiten führt kein Weg vorbei.

Eine Wirtschafts- und Agrarpolitik, die die Bauern „legt” und in Mißachtung der genetischen Information sonnenunabhängige Großstrukturen ohne geschlossene Kreisläufe fördert und die Landschaft ab- und ausräumt, versündigt sich am Glück und am Leben aller Menschen.

Dies muß einmal dem Zug der „wirtschaftspolitischen Lemmin-ge” deutlich entgegengerufen werden.

Der einzige Ausweg aus dem kollektiven, derzeit noch schleichenden Selbstmord ist die Einbeziehung von der Situation Rechnung tragenden ordnungs-politis<jhen Stellgliedern in den staatlichen und zwischenstaatlichen Rechtsordnungen (siehe Kasten).

Das Schicksal von untergegangenen Hochkulturen zeigt uns, daß ein Lebensraum aufgegeben werden muß, wenn seine Land-und Forstwirtschaft durch unan-gepaßte Großsysteme zugrundegerichtet wurde. Unsere weltweit mit biblischer Blindheit geschlagene Wirtschafts- und insbesondere Agrarpolitik sind gerade dabei, dies nachhaltig zu bewirken. Daher die Dramatik der Situation.

Der Autor ist Präsident der Osterreichischen Vereinigung für Agrarwissenschaftli-chen Forschung in Wien, sein Beitrag ein Auszug aus einem Vortrag beim Europäischen Forum Alpbach.

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