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NATURNAH UND ARTGERECHT

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Heute wird es kaum mehr maßgebliche Leute geben, die die grundsätzliche Forderung nach einer „tiergerechten" Haltung der Nutztiere ablehnen oder als überzogene Forderung von Randgruppen bezeichnen, doch ist der Inhalt des Begriffes „tiergerecht" je nach Standort und Interessenlage dessen, der dieses Wort gebraucht, mit sehr unterschiedlichen Inhalten gefüllt. Dieser Umstand führt in Agrar-politik, Verwaltungspraxis, Lehre, Beratung und in der praktischen Tierhaltung zu beträchtlichen Konflikten.

Das liegt in der Natur einer so komplexen Sache und findet sich auch in vielen anderen Bereichen, zum Beispiel in der Umweltproblematik. Trotzdem kann der Begriff „Tiergerechtheit" nicht beliebig auf irgendeinen Sachverhalt angewendet werden.

Vorerst sind die beiden folgenden extremen Gegenpositionen auszuschließen: Die eine, immer wieder in Bauernversammlungen vorgebrachte Meinung, die Tierhalter wüßten selbst am besten, was die Tiere wirklich brauchen, denn sie müßten schließlich von den Tieren leben und würden ihnen deshalb sowieso beste Unterbringung und Pflege angedeihen lassen. Dieser Standpunkt setzt die Produktivität des Betriebes mit den Bedürfnissen der Tiere gleich und ist durch zahlreiche stichhaltige Argumente eindeutig widerlegt.

Aber auch das andere Extrem, wonach alle Tiere ein völlig uneingeschränktes Lebensrecht hätten, ist zurückzuweisen: In der letzten Konsequenz wäre dann jegliche Nutzung von Tieren als Lebensmittel für den Menschen unmoralisch und daher abzulehnen.

Ein auf konkrete Fortschritte in der tatsächlichen Praxis gerichtetes

Bemühen muß seine Ziele im Mittelfeld dieser beiden Extremstandpunkte suchen. Die Fachdisziplinen, die dazu die wichtigsten Beiträge und Sachargumente liefern, sind Veterinärmedizin und Nutztierethologie (Verhaltensforschung).

Eine tiergerechte Unterbringung der Tiere muß deren durch Körperbau und Verhaltenseigenheiten bedingten Ansprüchen soweit genügen, daß ihnen „Bedarfsdeckung" und „Schadensvermeidung" gelingt. Das kann mit naturwissenschaftlichen Methoden im Vergleich zum Normalzustand und Normalverhalten einer Art gemessen werden.

Soziales Verhalten

□ Unsere Nutztiere gehören zu den sozialen Arten, das heißt, sie leben in Gemeinschaften mit Artgenossen und brauchen Sozialkontakt. Laufstall-und Gruppenhaltung ist datier der Anbinde- und Einzelhaltung vorzuziehen. Dauernde Anbinde- und Einzelhaltung ohne Auslauf oder Weidegang ist nicht tiergerecht.

□ Alle Tiere brauchen ein entsprechendes Platzangebot, das den Raumansprüchen für eine artgemäße Körperbewegung, für den artbedingten Mindestabstand von Tier zu Tier und für den Freß-, Bewegungs- und Ruhebereich entspricht. Jungen Tieren muß durch ein ausreichendes Platzangebot das artgemäße Spielverhalten zu einem Mindestmaß ermöglicht werden.

□ Alle Nutztiere verfügen über hochentwickelte Sinne, die im Such-, Neugier- und Erkundungsverhalten beansprucht werden wollen. Sie brauchen daher eine Umgebung mit einer Mindestausstattung von unterschiedlichen Elementen.

Absolute Reizarmut führt nachweislich zu Verhaltensstörungen. Schweine brauchen ein Material zum Wühlen, Beißen und Kauen; Hühner zum Sandbaden und Scharren. Alle Tiere brauchen strukturiertes Futter. Diese Ansprüche können durch eine ausreichende Einstreu befriedigt werden. Völlig einstreulose Haltung ist eigentlich keinem Tier zumutbar. Je nach Haltungssystem genügen dazu schon relativ geringe Mengen.

□ Hühner brauchen Sitzstangen zum Schlafen. Legehennen benötigen Nester, in die sie sich zum Eierlegen zurückziehen können. Schweinen muß es ermöglicht werden, einen vom Liegebereich deutlich abgesetzten Kotplatz anzulegen.

□ Alle Tiere zeigen in ihrem Verhalten 4ind in ihrer Aktivität tageszeitliche Schwankungen, die mit dem Lichttag korrespondieren. Dunkelstallungen sowie Haltung bei Dauerbeleuchtung sind nicht tiergerecht.

□ Zur Erhaltung der Gesundheit müssen alle Organe, Kreislauf, Muskel-, Bandapparat, Wärmeregulation, körpereigene Abwehr im Rahmen der natürlichen Grenzen regelmäßig betätigt werden. Die Beanspruchung ist geradezu die Energie, die das Leben zu seiner Erhaltung und optimalen Funktion benötigt.

Die dazu vorzusehenden Maßnahmen wie zum Beispiel genügend Bewegungsraum, Orte mit verschiedener Temperatur (Nest, Mistgang, Auslauf und so weiter) ermöglichen bei entsprechender Ausbildung auch die Befriedigung von Verhaltensbedürfnissen.

Es besteht kein Zweifel, daß dem kritischen Konsumenten, der zu teureren Markenprodukten greift, die Art der Tierhaltung wichtig ist. Klare, einfache, einheitliche, überprüfbare und nach dem Ausmaß des Erreichens von Tiergerechtheit abgestufte Festlegungen von Er-zeugungsrichtli-

nien sind daher unbedingt nötig, wenn dieser Hoffnungsmarkt aufgebaut, langfristig gesichert und stetig erweitert werden soll.

Kaum etwas kann diesem Markt abträglicher sein als die Enttäuschung des Konsumenten, der auf Grund von Markennamen und Produktwerbung Erwartungen hegt, die nicht wirklich erfüllt werden. Leere Versprechungen platzen früher und später wie schillernde Seifenblasen.

Produktwahrheit

Die Produktwahrheit auch in bezug auf die Haltungstechnik ist daher ein unbedingtes Gebot für die Markenerzeugung. Wenn jedermann seine mehr oder weniger weichen oder auch nichtssagenden Angaben als Kriterien einer tiergerechten Haltung anpreisen darf, dann ist der Konsumententäuschung und dem unlauteren Wettbewerb Tür und Tor geöffnet.

Es besteht somit ein ganz dringender Handlungsbedarf für den Gesetzgeber beziehungsweise den Verordnungsgeber (oder im Sinne der Eigenverantwortung der Landwirtschaft auch für die öffentliche Interessenvertretung, wenn der Gesetzgeber nicht handelt), Mindestanforderungen zu definieren und dazu eine Deklara-

tionspflicht einzuführen. Nach den Umfrageergebnissen kann man schließen, daß Naturnähe und Tiergerechf? heit bei der Erwartungshaltung kritischer Konsumenten an erster Stelle stehen. Alle neuen Markenprodukte auf dem Fleischsektor sprechen in der Werbung auch diese Erwartungen mehr oder weniger direkt und deutlich an, obwohl dies bei genauerem Hinsehen in so manchen Fällen, in Wirklichkeit nicht oder nur in sehr bescheidenem Ausmaß erfüllt wird.

Zum Aufbau des Hoffnungsmarktes ist es deshalb unbedingt erforderlich, den Begriff „Tiergerechtheit" zu definieren und die Produkte danach kontrollierbar zu deklarieren. Ein gemeinsames Vorgehen aller maßgeblichen Stellen könnte damit die Marktchancen einer großen Zahl kleinbäuerlicher Betriebe (die die objektiven Erfordernisse einer tiergerechten Haltung bereits erfüllen oder durch Anpassungen relativ leicht erreichen können) verbessern und damit auch dem immer lauter werdenden Vorwurf der Tierquälerei wirkungsvoll begegnen.

Der Autor, Univ. Doz. Dr. Helmut Bartussek, ist Leiter der Abteilung Landtechnik und Bauwesen der Bundesanstalt für Alpenländische Landwirtschaft in Gumpenstein.

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