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Lotte Ingrisch: Waldviertier Meditation

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Meine Erkenntnisse aus 14 Jahren Leben auf dem Land.

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Meine Erkenntnisse aus 14 Jahren Leben auf dem Land.

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In der Meditation machen wir unser Bewußtsein wieder jungfräulich. In einer weißen Wolke des Schweigens verhüllen wir es vor den Reizen der äußeren wie der inneren Welt. Beide Welten sind aber eine einzige, und vom Meditierenden, der sie zum Schweigen bringt, nicht getrennt. Meditation scheint also eine Umorganisation der eigenen Person zu sein, und genau das ist auch das Landleben des Städters.

Das Senden und Empfangen von äußeren Reizen, bekannt unter dem Namen Erfolg, wird verinnerlicht. Die Öffentlichkeit ist nicht länger der bestätigende — oder die Bestätigung verweigernde - Partner. Sie ist ein Teil von mir selbst, wie ich ein Teil von ihr bin. Meine Bühne ist das gemeinsame Bewußtsein. Was immer ich schreibe, denke, träume, nimmt dort Gestalt an, sich teilend und mitteilend.

Jedes Geheimnis ist offenbar, nichts ist privat. Das ist eine ebenso schöne wie schreckliche Erkenntnis. Last und Freude der Einsamkeit waren Illusionen. Die Medien sind Ab- und Zerrbilder einer unmittelbaren Wirklichkeit totaler Kommunikation. Wir sind nicht für unsere Taten und Werke verantwortlich. Oder vielmehr, alles ist unsere Tat, unser Werk. Der Traum, der Gedanke, die Schrift.

Das Senden und Empfangen von inneren Reizen, bekannt unter dem Namen Charakter, wird veräußerlicht. Er war nie mehr als eine prägnante Reduzierung unserer Möglichkeiten. Wie stolz waren wir auf ihn, und wie sehr haben wir uns seiner geschämt. Unter Schmerz und Gewalt haben wir ihn erworben. In einem kleinen Haus auf einer großen Waldwiese bedeutet er nichts mehr. Langsam lösen allzu feste Strukturen sich auf, die Zwänge zur Wiederholung eigener Reaktionen lockern sich, Gewohnheiten werden alternativ. Ein Schritt weiter, und man könnte sein, wer oder was man will!

Die Verantwortung löst allmählich den Erfolg ab, die Freiheit den Charakter. Ein Geschenk des Landlebens? Oder eine Frucht der in den Schatten fallenden Jahre. Die Frucht von beiden vielleicht, das Geschenk ihrer lebendigen Einheit.

Die dritte Gabe des Landlebens für den Städter stammt von den Tieren. Aufgewachsen in einer Tradition, die ihren Herrschaftsanspruch mit der Überlegenheit des Menschen über alle Reiche der Natur begründet, sind unsere Beziehungen zu Tieren meist dürftig. Wir empfinden ihnen gegenüber Zu- oder Abneigung, Furcht, Abscheu und Mitleid. Was Tiere mich in den 14 Waldviertler Jahren lehrten, sind aber Staunen, Toleranz und ein tiefer Respekt.

Von Überlegenheit keine Spur! Die Einheit des Seins, die wir als bunte Vielfalt des Werdens und Vergehens wahrnehmen, ist nicht hierarchisch geordnet. Hierarchisch ist nur unsere Wertung, die einiges über den Menschen und seine Maßstäbe verrät. Warum sprechen wir den Tieren Seele und Geist ab? Sie sind, und das meine ich ernst, viel spirituellere Wesen als wir. Nehmen wir das Beispiel des Todes! Was für ein Theater macht, normalerweise, der sterbende Mensch. Und was für ein Theater wird um ihn gemacht! Ich habe viele Tiere sterben gesehen, das bringt das Landleben mit sich. Katzen, Rehe, Schafe, Vögel, Eichhörnchen, Schmetterlinge, Fliegen. Und natürlich habe ich versucht, ihnen zu helfen, und viele Tränen geweint, weil ich es nicht konnte. Aber wie still und leicht lösten sich alle — auch die, welche Schmerzen litten - aus ihrer Bedingtheit, um einzugehen ins Unbedingte. Ich wünsche mir, eines Tages so wissend und demütig zu sterben wie ein Tier.

Ja, auch zu leben wie sie. Aber wer von uns Gespaltenen schafft das schon? Tiere haben sich nicht für den Intellekt entschieden, nicht für die Mechanik des Lebens, nicht für die Entwicklung von Technologien und industrieller Zivilisation.

Der Stumpfsinn und die Grausamkeit, mit denen der Mensch sie mißhandelt, sind um nichts weniger schlimm als die Grausamkeit und der Stumpfsinn, mit denen er mit seinesgleichen verfährt.

Mit den Tieren, mit seinesgleichen, mit der ganzen Erde. Auf dem Land lebend, kehrt man noch bei Lebzeiten zurück in ihren Schoß. Eigentlich erkennt man, daß man ihn niemals verlassen hat. Man vergaß ihn einfach. Den Schoß eines Sterns zu vergessen, ist schlimm. Es hat uns zu heimatlosen Freibeutern gemacht, zu lieblosen Ungeliebten. Wir empfanden uns selbst nicht mehr als Teile der Erde, wir benützten sie wie Besitzer. Die Trennung wurde vollständig.

Wäre die Lehre des Landlebens also das Landleben selbst? Die physische und psychische Wiederberührung der Erde mit ihren Pflanzen, Gewässern und Tieren? Macht sie Mensch und Erde wieder gesund?

Es gibt keine Rückkehr ins Paradies, und ein Paradies gab es vielleicht niemals. Der Mensch ist krank, und er ist selbst zur Krankheit geworden. Wir haben das Wissen und die Demut der Tiere verloren. Nun müssen wir versuchen, die Demut und das Wissen des Menschen zu finden. Sobald wir uns als Teile eines lebendigen Kosmos erkannt haben, verschwinden die Symptome der Krankheit, die wir haben und sind. Industrialisierung, Wirtschaftswachstum, Konsum. Verschwindet unser ganzer Fortschritt, denn er ist das Gegenteil der Evolution.

Versöhnen wir Land und Stadt, sie sind die beiden komplementären Hälften des Menschen.

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