Zur Causa Amanda Gorman: Autonomie der Kunst!

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Lydia Mischkulnig über Sensitivity Reading und Identitätspolitik im Literaturbetrieb - anlässlich des Streits um die Übersetzung des Gedichts von Amanda Gorman.

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Lydia Mischkulnig über Sensitivity Reading und Identitätspolitik im Literaturbetrieb - anlässlich des Streits um die Übersetzung des Gedichts von Amanda Gorman.

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Darf eine weiße Dichterin Gedichte einer schwarzen Dichterin übersetzen? Vorausgesetzt man weiß, dass man eine weiße Dichterin als Übersetzerin ist. Die Frage hakt sich fest und ich studiere Marieke Lucas Rijnevelds Fall. Die Schriftstellerin, 29, hat soeben große Medienpräsenz. Sie hätte Amanda Gormans „The Hill We Climb“ ins Holländische übersetzen sollen. Hymne, Gospel, Predigt, gestisch ausgereift war die Performance der schwarzen Dichterin, die das Kapitol zu Bidens Inauguration lyrisch bereicherte.

Eins zu eins ins Holländische hätte Rijneveld die Feier der Worte nicht übersetzen können. Nur der Versuch der Wiedergabe des Versuches eines Verstehens der Bedeutung des Sprachgesanges von Gorman wäre für Anderssprachige möglich. Identitätspolitik hat Rijneveld verjagt. Sie sei nicht schwarz. Sie passe nicht als Übersetzerin. Nicht ihre Fähigkeiten, sondern ihre Herkünftigkeit (weiß, protestantisch, Holländer*in, nicht-binär) liefert das Argument für den Angriff auf ihre Wahl als Übersetzerin. Was muss man erlebt haben, um Literatur unter Einfluss von Erfahrungswissen übersetzen zu können? Rijnevelds Gedicht über diese Situation ringt um Versöhnung und Verbrüderung gegen die Ungerechtigkeit.

Sensitivity Reading verlangt, dass sich kein Leser verletzt fühlt. „Versöhnung“ und „Verbrüderung“ belästigen mich. Versöhnung verhindert den Prozess des Verstehens. Verbrüderung unter Frauen gibt es nicht. Gedichte stehen auf Papier, Worte haben Eigensinn, darin liegt der teleologische Gewinn.

Wer darf Amanda Gormans Werk übersetzen? Wer wird entscheiden? Marieke Lucas Rijneveld hat reagiert, mit Rückzug in Kunst. Nur Schwarze dürfen Schwarze übersetzen? Im Reich der Kunst sind die Fragen um Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft schlagend geworden. Das ist der Angriff auf die Autonomie. Wenn Kunst der Gruppenbildung unterworfen wird, dann wird mir übel.

Die Autorin ist Schriftstellerin.

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