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Der Autor als Zulieferer

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Ohne Reifen kann kein Auto fahren, trotzdem spielen sie bei der Beurteilung eines Autos nur eine recht untergeordnete Rolle. Die Stellung der Theaterautoren, die sich einst Dramatiker nannten und heute lieber Stük- keschreiber genannt werden, gegenüber dem Theater hat große Ähnlichkeit mit der Beziehung zwischen Reifenfabriken und Autowerken. Wobei der Reifenfabrikant unter anderem durch den Umstand begünstigt wird, daß für jedes neue Auto immerhin unter allen Umständen ein voller Satz neuer Reifen benötigt wird, während sich die Klassiker kaum abnützen. Ein Teil von ihnen scheint sogar immer besser zu werden.

Das ist nichts neues. Auch die Tatsache, daß fast jede Generation den Fundus der den Tod ihrer Autoren überdauernden Bühnenliteratur vergrößert und damit die Chance neuer Autoren, auf die Spielpläne zu gelangen, verkleinert, wurde nicht erst gestern entdeckt. Neu aber ist die Vehemenz, mit der seit einiger Zeit die Bedeutung der Autoren, der lebenden wie der toten, für das Theater generell in Frage gestellt und abgewertet wird. Letzter Schrei ist die Emanzipation des Theaters von den literarischen Texten, von der Theaterdichtung. Regisseure, die, wie zuletzt Leopold Lindtberg auf dem österreichischen Theatertag dieses Jahres, „Werktreue“ als Grundprinzip ihrer Arbeit bezeichnen, disqualifizieren sich damit in den Augen aller jener, die vor allem das selbstgesäte Gras wachsen hören, als unmodern und gestrig.

Der starke Mann auf dem Theater ist neuerdings weder der Darsteller noch der Autor, sondern der Regisseur. Und gewisse extreme Inszenierungen der letzten Jahre, die Klassiker umfunktionierten und das Publikum ver- prellten, hatten wohl nicht zuletzt die Funktion, diesen Machtanspruch des Regisseurs zu betonen und das Stück, ob „Faust“ oder das Werk eines Zeitgenossen, auf die ihm in diesem Regietheater zugedachte Rolle zu reduzieren. Nicht mehr Dichtung, nicht mehr ein Werk, das vom Theater zu realisieren ist und dem das Theater zu dienen hat, sondern Rohmaterial, aus dem mit Hilfe des Regisseurs etwas völlig Neues, Eigenständiges wird.

Selbstverständlich hat diese Konzeption von einem Theater der Regisseure auch bereits ihre Theorie gefunden. Einer der großen Mandarine der deutschen Theaterkritik, Günther Rühle, sagt in der jüngsten Nummer der Zeitschrift „Theater heute“ nur, was ist, wenn er die Auffassung jener unmodernen Leute korrigiert, die „Theater noch immer als eine Anstalt zur Darstellung literarischer Texte, die Schauspielkunst als eine reproduktive und damit zweitrangige Kunst“ verstehen, und sich an dem nunmehr außer Kraft gesetzten Grundsatz orientieren: „Erst Literatur (,Das Stück“), dann das Theater.“

Rühle hält dem das Neue entgegen: „Das Theater ist längst herausgetreten aus der engen Bindung an die Literatur, es drängt nach Autonomie und entliterarisiert sich dementsprechend. Anders gesagt: es versteht sich mehr als eine eigene, eigenständige Kunst, für die literarische Stücke nur den Materialwert haben, der dieser zur Erscheinung verhilft.“

Sicher hat das Defizit an zeitgenössischer Theaterliteratur Anteil an dieser Entwicklung. (Rühle in einem vor einem Jahr gehaltenen Vortrag: „Das Theater kennt lange Phasen, in denen es ohne inspirierende Dichter aus- kommen muß.“) Aber eine ihrer7

hauptsächlichen Triebkräfte dürfte eine alle Bereiche unserer Gesellschaft durchziehende Tendenz zur Aufwertung des eigenen Bereiches auf Kosten der anderen sein, und da Stücke ohne Aufführungen existieren, Aufführungen aber ohne Stücke kaum stattfinden können, bedeutet die Durchsetzung der Autonomie des Theaters in seinem Verhalten zur Literatur deren Vergewaltigung.

Das Salzburger „Tod-eines-Jä- gers“-Fiasko (siehe Seite 13) hat’s wieder einmal gezeigt: Ein Stück ist entweder gut oder schlecht, und der beste Regisseur, die berühmtesten Darsteller und ihrer aller intensivstes Dreinreden macht aus einem schlechten kein gutes. Und mindestens mit einem Satz, mit dem sich Rolf Hochhuth zur Wehr setzte, hatte er völlig recht: Man hätte sein Stück j a nicht zur Urauffüh- rung annehmen müssen. Merkwürdig: Die auf ihren „Materialwert“ reduzierten Werke, denen eine entfesselte Regie jeden Anspruch an das Theater abspricht und die, als Rohmaterial für die „eigenständige Kunst Theater“, von ebendieser ausgebeutet werden, sind, sofern sie ihr wirklich „zur Erscheinung“ zu verhelfen vermögen, gute, wenn nicht bedeutende Stücke. Schlechte erleiden, ob werkgetreu oder wider den Strich, konventionell oder entfesselt inszeniert, das wohlverdiente Fiasko.

Es ist also offenbar möglich, den Autor zum Zulieferer ohne weitere Rechte zu degradieren, zum literarischen Reifenfabrikanten, dessen Anteil am Gesamtergebnis unterspielt wird, und es versteht sich, daß das bei toten Autoren am leichtesten geht. Aber was sich hinter dem Schlagwort vom „Heraustreten aus der engen Bindung an die Literatur“ verbirgt, ist zu einem guten Teil simpler Machtkampf, ist Gerangel um einen größeren Anteil am Kuchen, Ringen um Wichtigkeit und damit Macht, geführt nicht nur von „den Regisseuren“ gegen „die Autoren“, sondern (fast schon) von jedem gegen jeden.

Gewisse modische Inszenierungsstile, Vulgär- und Schockeffekte ohne aus dem gespielten Stück abzuleitende Funktion, bedeutungsschwer aufge- mascherlte Mätzchen, müssen auch, müssen vor allem, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden.

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